Irgendetwas Zentrales fehlt in Europa. Dies dürfte mittlerweile von vielen bestätigt werden. Und immer mehr Menschen merken, dass das Gerede von Aufklärung, Toleranz und Freiheit oft nur so lange interessant ist, wie es das eigene Wohlleben oder die eigene Position sichert. So findet man auch öfter Zeitungskommentare wie diesen: „Dass ein solches Europa keine Zukunft hat, ist klar. Es muss umgebaut werden oder es wird eher früher als später auseinanderbrechen.“ Über dieses Zentrale und auch über das Auseinanderbrechen kann man in dem oben genannten Buch von Vishal Mangalwadi einiges lernen.
Mangalwadi wurde 1949 in Indien geboren, wo er zunächst auch Philosophie studierte. Danach setzte er seine Studien in hinduistischen Ashrams und bei der L'Abri-Fellowship von Francis Schaeffer in der Schweiz fort. 1976 gründete er eine gemeinnützige Organisation, um den Armen und der Landbevölkerung niederer Kasten in Zentralindien zu helfen. Da dies dem Kastensystem und der feudalen Gesellschaftsordnung entgegenstand, stieß seine Arbeit auf heftigen Widerstand. Nahe Verwandte wurden ermordet, er selbst saß im Gefängnis und die Organisationszentrale wurde niedergebrannt.
In diesen Zusammenhängen schrieb er mehrere Bücher und setzte sich dafür ein, dass sich die gesellschaftlich-politische Stellung der Armen in Indien verbesserte. Seit 1996 hält er weltweit – bisher in über 40 Ländern – Vorträge. Von 1999 bis 2000 verbrachte er mit seiner Frau viel Zeit in der Bibliothek der Universität Cambridge in England, um die Rolle der Bibel beim Aufstieg der westlichen Kultur zu erforschen. 2011 veröffentlichte er dann das Werk The Book That Made Your World: How the Bible Created the Soul of Western Civilization. Es erschien 2014 auf Deutsch unter dem Titel Das Buch der Mitte. Wie wir wurden, was wir sind: Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur.
In diesem Buch wirft Mangalwadi einen kritischen Blick auf den heutigen Westen und auf sein Heimatland Indien. Dem Westen wirft er anhand von Beispielen vor, dass er die Bibel als Offenbarung Gottes nicht mehr ernst nehme und damit sein eigenes Fundament zerstöre und seine Seele verliere. Im Vorwort schreibt J. Stanley Mattson: „Auf der anderen Seite verlieh ihm das Studium der Weltgeschichte eine neue Hoffnung, die auf den Seiten dieses außergewöhnlichen Buches mitschwingt. Mangalwadi kann man sicher als einen Intellektuellen des Ostens bezeichnen. Er verfügt über eine tiefe Kenntnis der ganzen Bandbreite östlichen Gedankengutes und östlicher Kultur, profitiert aber auch von der umfassenden Darlegung der intellektuellen und geistlichen Traditionen und Institutionen des Westens. Durch seinen Zugang zum östlichen wie zum westlichen Denken erhielt er einen ausgezeichneten Einblick in das Denken und das Wesen der westlichen Kultur. Dies wiederum befähigt ihn, sich mit prägnanter Klarheit und prophetischem Mut zur Krise unserer Zeit zu äußern.“
Mangalwadi beginnt im Prolog damit, diese „Reise in die Seele der modernen Welt“ zu begründen. Er schreibt dort z.B.: „Die Menschen der Postmoderne sehen meist wenig Sinn darin, Bücher zu lesen, die nicht direkt ihrer Karriere oder ihrem Vergnügen dienen. Dies ist ein logisches Resultat des Atheismus, der verstanden hat, dass der menschliche Geist von sich aus unmöglich wissen kann, was richtig und wahr ist.“
Das Buch besteht aus sieben Hauptteilen und 20 Kapiteln. Die Teile sind folgendermaßen überschrieben: I. Die Seele der westlichen Zivilisation; II. Eine persönliche Pilgerreise; III. Der Same der westlichen Zivilisation; IV. Die Revolution des Jahrtausends; V. Die intellektuelle Revolution; VI. Was brachte den Westen an die Spitze? und VII. Die Moderne erobert die Welt. Zentrale Themen darin sind: Die Hoffnungslosigkeit des Westens; die persönliche Begegnung des Autors mit der Bibel und die Konsequenzen; Identität des Menschen; Mitmenschlichkeit, Vernunft, Kultur, Geschichte, Wahrheitsansprüche anderer Weltanschauungen; Technik, Bildung, Ethik, Werte, Familie, Reichtum, Freiheit, Mission und Zukunft.
Der Haupttext endet auf Seite 530, dann folgt ein 20-seitiges Nachwort. Die Anmerkungen nehmen 30 Seiten ein und das Register 17 Seiten.
Warum sollte man dieses Buch lesen? Schon in der Schule wird den Kindern und Jugendlichen heute ein Geschichtsbild vermittelt, das der Bibel zum Teil widerspricht oder Ereignisse einseitig atheistisch-rationalistisch-modernistisch deutet. Ähnliches gilt für die Universitäten und auch für die Medien. Dies zu durchschauen, ist von geradezu existenzieller Wichtigkeit, da sonst die Gefahr besteht, durch säkulare Weltbilder dem christlichen Glauben gegenüber negativ geprägt zu werden oder sich davon zu entfernen, weil man meint, die säkularen Deutungen seien den christlichen überlegen. Weiterhin liefert das Buch zentrale Einblicke in wesentliche Aspekte des (westlichen) Denkens und auch in die Bedeutung der Bibel dafür. Freilich: Die Verbindung von nationalstaatlichen und demokratischen Ideen und auch das Aufheben der Klassenunterschiede mit der Bibel halte ich in der vorgestellten Dimension nicht für zwangsläufig; auch könnten die Ansprüche Gottes in Relation zu den menschlichen Bedürfnissen etwas mehr betont werden. Und schließlich wäre ein klareres Wort zum Thema Evolution wünschenswert gewesen.
Der Autor verbindet in diesem Buch Erzählung (auch aus seinem eigenen Leben) und praktische Beispiele mit eher theoretischen Reflexionen. Daher ist es recht leicht zu lesen. Ein Vorzug ist auch, dass er öfter die Außenperspektive eines Inders einnimmt; erst durch die Bezüge zur dortigen Kultur werden die Vorzüge, aber auch die aktuellen Probleme der westlichen Kultur deutlich. Mangalwadis starke Verwurzelung in der Realität verhindert ein abgehobenes Theoretisieren. Voraussetzung für die Lektüre ist aber selbstverständlich ein Interesse an solchen Themen – auch an etwas theoretischeren Fragen – und eine gewisse Kenntnis der Geschichte.
Der Text ist sehr gut gegliedert und übersichtlich gestaltet. Dies erleichtert sowohl die Orientierung als auch die Lesbarkeit. Die Kapitel sind so konzipiert, dass sie auch ohne Kenntnis des Kontextes gut verständlich sind. Die Sprache ist für dieses Thema recht konkret und anschaulich. Einen Eindruck kann man sich auf der Verlagswebsite verschaffen, wo die ersten 42 Seiten als Leseprobe eingesehen werden können, oder auch auf YouTube, wo einige Vorträge von Mangalwadi zu diesem Thema eingestellt sind.
Ranald Macaulay schreibt über das Buch: „Seit dem Buch von Francis Schaeffer Wie können wir denn leben?[1] wurde uns keine solch übersichtliche und weitreichende Entfaltung der Probleme unseres globalen Gemeinwesens mehr nahegebracht.“ Und Art Lindsey meint: „Wenn wir es versäumen, hinzuhören, und es uns nicht gelingt, der Bibel im persönlichen wie im öffentlichen Leben wieder einen wichtigen Platz einzuräumen, dann könnte die Sonne über dem Westen untergehen.“ – Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen.
Jochen Klein
[1] Vgl. die Rezension auf www.jochenklein.de.
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