Jeder kennt die Sehnsucht nach der vollkommenen Welt. Egal, in welchen Verhältnissen man lebt – etwas mehr geht immer noch. Dafür gibt es viele Beispiele: Bei Krankheit, finanzieller Not oder Einsamkeit sind die Wünsche nach Veränderung klar. Aber auch bei Gesunden, Reichen und Menschen mit guten (sozialen) Beziehungen sind diese Wünsche vorhanden. Denn wir leben seit dem Sündenfall in einer gefallenen Welt. So spürt man überall Unzulänglichkeiten, kann positive Situationen nicht voll genießen und ausschöpfen, und fast immer merkt man bei Gutem, dass eben doch noch etwas mehr möglich wäre.
Ein gutes Beispiel dafür liefert auch das Buch Prediger. Über weite Strecken stellt Salomo wesentliche Aspekte des menschlichen Lebens wertend dar – aber nicht, wie wir es in der Bibel erwarten würden, aus göttlicher Sicht, sondern aus (horizontal-diesseitiger) menschlicher Sicht. So stellt er zu Beginn nicht nur fest, dass vieles nicht vollkommen ist, sondern dass alles nichtig (oder „eitel“) ist. Im weiteren Verlauf werden dann Beispiele aufgezeigt. Zunächst wird auf einiges anscheinend immer Gleiche im Leben und in der Natur hingewiesen. Danach wird die Schwierigkeit dargestellt, mit Worten Inhalte angemessen zu transportieren, und es wird bewusst gemacht, dass Auge und Ohr beim Sehen bzw. Hören nie satt werden. Und schließlich kommt als Zwischenergebnis die Aussage: „Es gibt gar nichts Neues unter der Sonne“ (1,9).
Im nächsten Abschnitt geht es um die Grenzen und Probleme der (theoretischen) Weisheit, mit dem Ergebnis: „Wo viel Weisheit ist, ist viel Verdruss, und wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer“ (1,18). Anschließend wendet sich der Prediger eher praktischen Bereichen zu, nämlich z.B. Frauen, Freude, Essen, Trinken, Häuser bauen, Gärten und Parks anlegen, sich viele Angestellte anschaffen, Viehbesitz, viel Gold und Silber, Musik sowie noch anderen an sich positiven Dingen. Das Ergebnis: „Und ich wandte mich hin zu allen meinen Werken, die meine Hände gemacht hatten, und zu der Mühe, womit ich mich wirkend abgemüht hatte: Und siehe, das alles war Eitelkeit und ein Haschen nach Wind; und es gibt keinen Gewinn unter der Sonne“ (2,11).
Der Verfasser, Salomo, hatte viel Macht, viel Reichtum, viele Frauen und viel Weisheit. Aus diesem Grund könnte man vielleicht zunächst denken, dass er ein zufriedenes Leben hatte. Aber die obigen Zitate zeigen, dass es nicht so war. In Bezug auf die Erkenntnisgrenzen schreibt er: „Da habe ich bezüglich des ganzen Werkes Gottes gesehen, dass der Mensch das Werk nicht zu erfassen vermag, das unter der Sonne geschieht, indem der Mensch sich abmüht, es zu suchen, aber es nicht findet. Und selbst wenn der Weise es zu erkennen meint, vermag er es doch nicht zu erfassen“ (8,17). Bei diesseitiger Perspektive kann man der Sehnsucht nach der vollkommenen Welt also nicht zufriedenstellend begegnen. So zeigt Salomos Ergebnis schließlich folgerichtig, was anzustreben ist: Gott zu fürchten und sich an seine Prinzipien zu halten (12,13).
Dies war auch ein wesentliches Merkmal von Abrahams, Isaaks, Davids und Hiobs Leben. Und daran lag es vielleicht auch, dass sie „alt und der Tage satt“ starben. Nicht dass alles das, was sie auf der Erde erlebt hatten, zu diesem Ergebnis geführt hätte. Bei Abraham heißt es aber beispielhaft: „Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen sollte; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme. Durch Glauben hielt er sich in dem Land der Verheißung auf wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung; denn er erwartete die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Hebr 11,8–10). Er verließ also sein gewohntes Umfeld und musste mit vielen Unsicherheiten rechnen. Seine Perspektive war aber eine von Gott verheißene, sichere Zufluchtsstätte, und somit konnte er auf viele Annehmlichkeiten verzichten. Für ihn stand der Glaube im Vordergrund und nicht das sinnlich Erlebbare.
Eine ähnliche Prioritätensetzung sehen wir bei Paulus. Wegen Christus verzichtete er auf vieles und hielt es sogar für Verlust (vgl. Phil 3,7.8), da er wusste, dass das, was mit Christus in Verbindung steht, weit besser ist als alles andere (vgl. 1,23). Wenn er in seinen Briefen den Gläubigen immer wieder sinngemäß bewusst macht, dass „unser Bürgertum … in den Himmeln“ ist (Phil 3,20), bringt das eine grundsätzlich andere Perspektive mit sich als die, die im Buch Prediger vorherrscht. Da steht dann nicht mehr die Endlichkeit, Eingeschränktheit und Monotonie alles Irdischen im Vordergrund, sondern aus himmlischer Perspektive gewinnt das Irdische seine Bedeutung in Bezug auf das Himmlische.
Das steht freilich den heutigen Trends und dem heutigen Denken völlig entgegen, wo die Fixiertheit auf das Irdische alles bestimmt. Wozu das führen kann, macht z.B. der Arzt und Psychotherapeut Manfred Lütz deutlich. Er spricht von einer „hemmungslos grassierenden Gesundheitsreligion, vor allem mit der alles beherrschenden Sorge um die körperliche Gesundheit“, oder von der „unbändigen Sehnsucht nach ewiger Glückseligkeit – durch Psychotherapie ... In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass inzwischen wirklich alle Phänomene der Religion im Gesundheitswesen angekommen sind. So gibt es Ärzte als Halbgötter in Weiß ... Außerdem gibt es medizinische Wallfahrtsorte … die Gesundheitsreligion ist offensichtlich auf dem besten Weg zur Staatsreligion ... Und die Gesundheitsreligion herrscht bei uns nun mal totalitär.“ Und in Bezug auf die Psyche: „Fast jeder meint heute zu wissen, was gegen Unglück am sichersten hilft und die Lebenskunst wieder beflügelt: Psychotherapie. Viele haben zwar keine Ahnung, was das wirklich ist, begehren es aber dennoch ungestüm ... die Möglichkeiten der Psychologie [sind] in Wirklichkeit weit begrenzter als die hemmungslosen Hoffnungen, die auf sie projiziert werden.“
Wie gehen wir nun mit der Sehnsucht nach der vollkommenen Welt um? Zunächst sollten wir bedenken: „Alles hat er [Gott] schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk nicht ergründet, das Gott getan hat, vom Anfang bis zum Ende“ (Pred 3,11). Gott hat also eine Sehnsucht nach mehr in uns hineingelegt, aber wir sind nicht in der Lage, vieles in seiner tatsächlichen Dimension zu erfahren oder zu erfassen. Einerseits sollten wir somit nicht meinen, im Irdischen unsere letzte Erfüllung finden zu können und diesem für sich zu hohe Bedeutung beizumessen; andererseits machen viele Bibelstellen deutlich, dass wir vieles davon aus Gottes Hand dankbar annehmen und genießen können, freilich nur in der von ihm gewollten Dimension und in dem von ihm gewollten Zusammenhang. Wir sollten aber aufpassen und nicht zu hohe Erwartungen an irdische Erlebnisse haben, damit wir dadurch nicht anderen oder uns schaden.
Schließlich: Wir dürfen und sollen die Sehnsucht nach der vollkommenen Welt haben. Sie sollte unser Leben bestimmen und nach außen sichtbar sein. Und: wir werden diese Welt ja bald erreichen!
Jochen Klein
Erst die Rebellion des Menschen gegen Gott, die Emanzipation vom Schöpfer und seinem Wort hat die Harmonie zerbrochen. Die Welt von Leid und Tränen ist nicht die Welt, die Gott gewollt hat. Es ist die Welt jenseits von Eden. Und darin fühlt sich der Mensch fremd. Der leidende Mensch hat also den Eindruck: Das ist nicht die Welt, für die ich eigentlich geschaffen bin. Hier bin ich nicht zu Hause, meine Heimat ist irgendwo anders. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) schreibt in seinen Bekenntnissen: „Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir, o Gott. Denn auf dich hin hast du uns geschaffen.“
Peter Hahne
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