Im Deutschbuch P.A.U.L. D. Oberstufe ist zu Beginn des Kapitels „Zeitenwende – Aufbruchsbewegungen um 1900“ folgendes Lob zu lesen: „Nietzsche gilt als Leitfigur der Moderne, da er durch seine Haltung, viele Überzeugungen seiner Zeit infrage zu stellen, den Nerv seiner Zeit traf … Es ging ihm in seinen Schriften um die Schaffung eines freien, starken Menschen (des sog. Übermenschen), sodass die Verneinung überkommener Werte zum Fundament der von ihm angestrebten neuen Moral wurde.“
Friedrich Nietzsche wird an der Schule in unterschiedlichen Fächern und Zusammenhängen behandelt, aber auch an der Universität immer wieder thematisiert. Elmar Schenkel, Mitglied im Vorstand des Nietzsche-Vereins, meint: „Das Denken Friedrich Nietzsches ist nach wie vor sehr aktuell und spielt in gesellschaftspolitischen Fragen eine sehr große Rolle“. Die Beschäftigung mit Nietzsche ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, weil seine Position einen Wendepunkt in der Ethik darstellt: Vom „Willen zur Macht“ und der „Umwertung der Werte“ lassen sich Parallelen zu unserer Zeit, aber auch zu früheren Zeiten ziehen.
Fasst man Nietzsches Leben in einem Satz zusammen, könnte dieser so lauten: „Ein Gelehrtendasein, früh beginnend, bald abgebrochen, endet im Wahnsinn“ – so der Nietzsche-Kenner Peter Pütz. Die Aussage Nietzsches „Meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit“ bringt sein Programm auf den Punkt. Oder: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“.
Wer war nun dieser Mann, über den Christoph Helferich in seiner Geschichte der Philosophie sagt, dass seine „Radikalität eine große Anziehung“ ausübe und sein Verdacht sich auf alle Bereiche der kulturellen Tradition gerichtet habe: „die Geschichte der Religion, der Wissenschaften, des Rechts, der Moral; ganz allgemein auf alle Formen des menschlichen Zusammenlebens samt ihrem gedanklichen und gefühlsmäßigen ‚Kitt‘“? – Grundvoraussetzung für diese Position sei der „Tod Gottes“, wie ihn Nietzsche postuliert habe.
Der christliche Autor Reinhold Widter schreibt in seinem Buch Der Wille zur Macht – Friedrich Nietzsche: „Das Werk Nietzsches zeigt uns die tragische Gestalt eines Menschen, der von frühester Kindheit … ein Christentum kennenlernte, dem das Fundament der Bibel fehlt … Diesem Zerrbild von Wahrheit, dem er begegnet, hält er seine Wahrheit gegenüber. Es ist die ‚Wahrheit der Gottlosigkeit‘“. So sei Nietzsche dann zum „Propheten der Gottlosigkeit“ geworden.
Wer war also dieser Mann? Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken (heute Sachsen-Anhalt) geboren und starb am 25. August 1900 in Weimar. „Erst nach seinem Tod wurde Nietzsche als Philosoph weltberühmt. Dies ist vor allem seinen zahlreichen philosophischen Schriften zu verdanken. Er war Vertreter des Nihilismus und prägte den Begriff des Übermenschen“, so die Website philosophenlexikon.de.
Schon der Großvater Friedrichs war evangelischer Pfarrer gewesen, sein Vater war ebenfalls Pfarrer. So stand der Enkel in einer Tradition, die das auch von ihm verlangte. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1849 und dem des Bruders ging die Familie nach Naumburg. Zunächst privat unterrichtet, besuchte der junge Nietzsche ab 1854 das Domgymnasium und wurde 1858 als Stipendiat in die Landesschule Pforta aufgenommen, wo er sein Interesse an Literatur, Philosophie, Musik und Sprache intensivierte. 1864/65 begann er an der Universität Bonn das Studium der klassischen Philologie und der evangelischen Theologie. Im Oktober 1865 wechselte er nach Leipzig. Dort entdeckte er sein Interesse an Arthur Schopenhauer und dessen Philosophie, die stark am Buddhismus ausgerichtet war. Über diesen und die vorsokratische griechische Philosophie fand er den – ihm verwandten – Gott: Dionysos, den Zerstörer, den Antichristen; das Nein zu jeglichem christlichen Glaubensinhalt. Demgemäß formulierte er dann über sich selbst: „Ich bin auf Griechisch und auf Nichtgriechisch der Antichrist.“
1869, noch vor seiner Promotion und Habilitation, wurde Nietzsche zum außerordentlichen Professor für klassische Philologie an die Universität Basel berufen. 1879 musste er sich wegen diverser Krankheiten vorzeitig pensionieren lassen. Von nun an reiste er und war als freier Autor sowie Philosoph tätig.
Anfang 1889 erlitt Nietzsche seinen ersten Nervenzusammenbruch. Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Jena nahm ihn seine Mutter 1890 wieder in Naumburg auf. Als die Mutter 1897 starb, zog Nietzsche in die Villa Silberblick in Weimar, wo seine Schwester ihn pflegte. Durch mehrere Schlaganfälle war er teilweise gelähmt, fast blind und konnte weder stehen noch sprechen, bis er schließlich 1900 den Folgen einer Lungenentzündung und eines weiteren Schlaganfalls erlag. Die geistige Umnachtung, in der er starb, wurde wahrscheinlich durch mehrere Faktoren verursacht: genetische Vererbung, regelmäßige Rauschgifteinnahme, dämonische Einflüsse, seelische Verarmung und Realitätsschwund – auch bedingt durch seine abstrakte Illusionswelt.
Was die Tradition angeht, in der Nietzsche stand, so weist Reinhold Widter darauf hin, dass sein Vater von der konservativen spätromantischen Stimmungslage beeinflusst gewesen sei: ihren pantheistischen Zügen, wonach Gott und die Natur eins sein sollen, und dem höchsten künstlerischen Ziel, mit Hilfe der menschlichen Phantasie das Endliche mit dem Unendlichen zu vereinen. Mit diesen Vorstellungen sei man immer mehr davon abgekommen, Umkehr und Glauben an Jesus Christus für zentral zu halten; es genüge vielmehr die romantische Phantasie des religiösen Menschen, sich in die Gegenwart Gottes hineinzufühlen und mystisch hineinzuversenken. So habe die Romantik das Kreuz Christi umgangen. Ihr Motto sei es gewesen, die Gegensätze zwischen der Heiligkeit Gottes und der Sündhaftigkeit des Menschen zu verwischen und poetisch zu überspielen. So habe die Betonung des Gefühls und der subjektiven religiösen Erfahrung das objektive Wort Gottes verdrängt. Friedrich Nietzsche kritisierte dieses Subjektive eine Generation später massiv und baute als Ersatz für die spekulative Theologie eine spekulative Philosophie auf.
Auch die historisch-kritische Methode[1] als Spätfrucht der Aufklärung[2] war ein wesentlicher Aspekt für den philosophischen Ansatz Nietzsches. Er lernte sie am humanistischen Gymnasium kennen und ahnte schon als Schüler, dass dem Christentum „große Umwälzungen bevorstehen“, weil es sich auf bloße „Annahmen“ gründe. Durch den Einfluss bibelkritischer Gelehrter setzte Nietzsche seine historisch-kritischen Annahmen absolut und warf Christen wie Juden bewusste Geschichtsfälschung vor. Da der christliche Glaube historische Tatsachen gefälscht habe, folgerte Nietzsche, dass alle christlichen Moralkriterien erfunden worden seien, genauso wie Gott. Er zog die Schlussfolgerung, dass eine Religion, die sich der Geschichtsfälschung bedient, weniger als nichts wert sei. In diesem Sinne erklärte er sich zum ersten „Immoralisten“. Geprägt von den Denkansätzen des 18. Jahrhunderts, sah Nietzsche schließlich sein Lebenswerk darin, die Auswirkungen der Reformation des 16. Jahrhunderts zu überwinden. Sie sei gegenüber den „lebensbejahenden Mächten der Renaissance“ ein Rückfall.
Dieses Programm der „Umwertung aller Werte“ beruht auf folgenden Grundsätzen: 1. der verzerrten Vorstellung über den tatsächlichen Inhalt der Bibel, wahre Nachfolge Jesu und biblisches Denken, 2. dem Absolutheitsanspruch der Bibelkritik, 3. dem Grundsatz, dass der Mensch an die Stelle Gottes treten und durch den Willen zur Macht selbst über sein Schicksal bestimmen müsse und 4. dem konsequent durchgezogenen System, die christlichen Wertmaßstäbe jeweils ins exakte Gegenteil zu übertragen.
Auswirkungen dieser Philosophie sind auch im Nationalsozialismus und im Faschismus zu finden, die sich auf zentrale Thesen Nietzsches berufen. Das Grundkonzept vom „Willen zur Macht“ oder der „Umwertung aller Werte“ bestimmt aber auch die Wertmaßstäbe der heutigen Gesellschaft.[3] An die Stelle der Grundsätze Gottes ist u.a. die Überzeugung getreten, dass ethische Wertmaßstäbe relativ und veränderbar seien. Durch die Frankfurter Schule[4] wurde der „Wille zur Macht“ dem Kollektiv übertragen. So stellen sich in deren Folge viele in die Tradition des Aufstands gegen Gott, wird doch in vielfältigsten Bereichen selbst entschieden, was gut und böse ist.
Nietzsche erkannte schon früh, wohin die bibelkritischen Ansätze von David Friedrich Strauß und anderen führten. Ihm war klar, dass der christliche Glaube in der Tradition der Aufklärung auf tönernen Füßen steht. Sein Heilsweg bestand aber nicht darin, sich der Überzeugung von der Inspiration der Bibel zuzuwenden, sondern darin, den Zugang zum Heil von Gott in den Menschen zu verlegen. Seine Zukunftshoffnung war eine säkularisierte, in den Menschen hineinverlegte, nämlich dass der Mensch sich mithilfe des Evolutionsprozesses höherentwickeln werde. Die ewige Wiederkehr des Gleichen rundete seine Hoffnung auf Fortentwicklung des Menschen ab. Allerdings erscheint in seinem Werk auch öfter der Gedanke, dass er um die Wahrheit rang und sich von jemandem, der es besser wusste, überzeugen lassen wollte.
Das Beispiel Nietzsche ist abschreckend und der Schulbuchtext (s.o.) massiv beschönigend. Nietzsches Werdegang sollte uns sensibilisieren, das Denken der Aufklärung und der Bibelkritik nicht zu unterschätzen, aber auch nicht die Ideen so mancher Philosophen und Welterklärer – zu unserem Nutzen und dem anderer. Was in der Bibel über Babel gesagt wird, gilt auch hier:
„Und du vertrautest auf deine Bosheit, du sprachst: Niemand sieht mich. Deine Weisheit und dein Wissen, das hat dich irregeführt; und du sprachst in deinem Herzen: Ich bin es und gar keine sonst! Aber es kommt ein Unglück über dich, das du nicht wegzaubern kannst; und ein Verderben wird über dich herfallen, das du nicht zu sühnen vermagst; und plötzlich wird eine Verwüstung über dich kommen, die du nicht ahnst … Vielleicht kannst du dir Nutzen schaffen, vielleicht wirst du Schrecken einflößen. Du bist müde geworden durch die Menge deiner Beratungen. Sie mögen doch auftreten und dich retten, die Himmelszerleger, die Sternbeschauer, die jeden Neumond kundtun, was über dich kommen wird! – Siehe, sie sind wie Stoppeln geworden, Feuer hat sie verbrannt! Vor der Gewalt der Flamme konnten sie ihr Leben nicht retten: Es war keine Kohle, um sich zu wärmen, kein Feuer, um davor zu sitzen. So sind dir die geworden, für die du dich abgemüht hast; deine Handelsgenossen von deiner Jugend an, sie irren umher, jeder nach seiner Seite hin; niemand hilft dir“ (Jesaja 47, 10–15).
Jochen Klein
[1] Vgl. dazu Jochen Klein: „Das moderne Denken und die Bibelkritik“, auf www.jochenklein.de
[2] Vgl. dazu Jochen Klein: „Kritisches zur Aufklärung“, auf www.jochenklein.de
[3] Vgl. dazu Jochen Klein: „Kritisches zur 1968er-Bewegung“, auf www.jochenklein.de
[4] Als Frankfurter Schule wird eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen bezeichnet, die an die Theorien von Hegel, Marx und Freud anknüpfte und deren Zentrum das 1924 in Frankfurt am Main eröffnete Institut für Sozialforschung war. Sie werden auch als Vertreter der dort begründeten Kritischen Theorie begriffen.
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