Er hieß Sunenberg, stammte aus Luzern, war Fähnrich und verließ seine Heimatstadt, um in der Fremde Söldner zu sein. Einige Zeit später kam folgende Nachricht: „Der Sunenberg gestorben von Heimweh“. Das war 1569. In diesem Brief ist der Begriff „Heimweh“ erstmals überliefert.
Bald darauf wurde dieses Wort zum Inbegriff eines rätselhaften Leidens, das an Schweizer Rekruten beobachtet wurde, die in Frankreich oder in den Niederlanden ihren Dienst taten. Französische Offiziere ließen das Spielen und Singen bestimmter Schweizer Lieder sogar angeblich bei Todesstrafe verbieten, um Aufruhr und Desertion zu vermeiden.
Für Sesshafte war Heimat lange Zeit nicht nur ein Ort, sondern auch etwas, das man mit der heutigen Staatsangehörigkeit vergleichen kann. Nur wer in einer Gemeinde Heimatrecht besaß, durfte sich dort niederlassen und hatte Anspruch darauf, bei Armut, Krankheit oder im Alter versorgt zu werden. In unserer Zeit hat sich der Heimatbegriff vollständig gewandelt. Johanna Romberg meint: „Für die Menschen des 21. Jahrhunderts ist das Unstete zum Idealbild geworden, sind Fremde und Heimat auf seltsame Weise durcheinander geraten. Wir leben in einer Welt, in der Aufbrechen, Fortkommen und Ankommen so leicht ist wie nie zuvor, und in der Ortsgebundenheit schon fast als Zeichen von Rückständigkeit gilt ... Wozu aber brauchen wir Heimat so dringend. Wir wissen ja nicht einmal, wo genau sie liegt“ (Geo 10/2005, S. 109f.). Nora Iguna, eine bekannte rumänische Dichterin, sagt: „Mir fallen bei ‚Heimat‘ immer die ersten Astronauten ein. Als sie die Erde sahen, da dachten sie sicher: Das ist meine Heimat! Und das denke ich auch: Meine Heimat, der Blaue Planet.“ Und die bulgarische Schriftstellerin Diana Ivanova meint: „In der Welt der Dynamik hat die Heimat die Rolle des Ankers übernommen“.
Friedrich Nietzsche (1844B1900) entstammte einer protestantischen Pfarrerfamilie. Er beschäftigte sich früh intensiv mit unterschiedlichen Philosophien. Später führte er den Begriff des Nihilismus in die deutsche Philosophie und Literatur ein. Dieser Begriff bedeutet ein Bewusstsein der Leere und Sinnlosigkeit von Welt und Leben, das Gefühl der totalen Ohnmacht des Menschen und sein Ausgeliefertsein an ein übermächtiges, oft auch anonymes Schicksal. Nietzsche schrieb 1884 das Gedicht Vereinsamt, in dem diese Stimmung deutlich wird.
Vereinsamt
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein. –
Weh dem, der keine Heimat hat!
Während der Jahrhunderte gab es immer wieder Menschen, die ihre Heimat verloren haben, weil sie z. B. wegen Kriegen von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung betroffen waren. Es gibt aber unabhängig davon auch immer wieder Einzelschicksale von Menschen, die mit dem Verlust der Heimat leben müssen oder die nie eine hatten. Von Vereinsamung kann man aber nicht in allen Fällen reden.
Die erste Vertreibung auf der Erde fand im Garten Eden statt. Wegen ihrer Sünde mussten Adam und Eva das Paradies verlassen. Seit dieser Zeit ist jeder Mensch in gewisser Weise heimatlos. Eine frühe Umsiedlung, von der in der Bibel berichtet wird, ist die Abrahams. Er kam aus Ur in Chaldäa und musste sein Land, seine Verwandtschaft und das Haus seines Vaters verlassen, um letztlich nach Kanaan zu kommen – in das Land, das Gott ihm gezeigt und seinen Nachkommen bestimmt hatte. Dies wird in Hebräer 11,8–10 folgendermaßen kommentiert: „Durch Glauben leistete Abraham dem Ruf Folge, der ihn in ein Land ziehen hieß, das er zum Erbbesitz empfangen sollte: er wanderte aus, ohne zu wissen wohin. Durch Glauben siedelte er sich als Beisasse (ohne Besitzrecht) in dem verheißenen Lande wie in einem fremden an und wohnte in Zelten samt Isaak und Jakob, den Miterben der gleichen Verheißung; denn er wartete auf die Stadt, welche die festen Grundmauern hat, deren Erbauer und Werkmeister Gott ist“. In Hebräer 11,13–16 heißt es dann weiter, Bezug nehmend auf etliche Glaubensväter bis Abraham: „Im Glauben sind diese alle gestorben, ohne die (Erfüllung der) Verheißung erlangt zu haben; nur von ferne haben sie diese gesehen und freudig begrüßt und bekannt, dass sie Fremdlinge und Gäste auf der Erde seien; denn wer ein solches Bekenntnis ablegt, gibt dadurch zu erkennen, dass er ein Vaterland (oder: eine Heimat) sucht. Hätten sie nun dabei an jenes (Vaterland) gedacht, aus dem sie ausgewandert waren, so hätten sie Zeit (oder: Gelegenheit) zur Rückkehr dorthin gehabt; so aber tragen sie nach einem besseren (Vaterland) Verlangen, nämlich nach dem himmlischen. Daher schämt sich auch Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden; er hat ihnen ja bereits eine Stadt (als Wohnung) bereitet“.
Der Urenkel Abrahams, Josef, wurde etliche Zeit später gezwungen, das Land seiner Geburt zu verlassen und in die Fremde, nämlich nach Ägypten zu ziehen. Er blieb Gott treu und wurde durch seinen Aufenthalt dort zum großen Segen für seine Nachkommen und für die Ägypter. Er kam nie mehr (lebend) zurück, sondern starb in der Fremde. Ähnlich ging es Daniel, der mit einem Teil der Juden wegen ihres Ungehorsams Gott gegenüber nach Babylon weggeführt wurde. Sie litten in der Ferne sehr (vgl. z. B. Ps 137). Daniel hatte aber ein Rezept gegen Einsamkeit und Not: Dreimal am Tag kniete er nieder, betete und lobpries vor seinem Gott (vgl. Dan 6,11). So blieb er in der Fremde Gott treu, obwohl ihn dies manchmal fast das Leben gekostet hätte.
Im Neuen Testament äußert sich der Herr Jesus gegenüber seinen Jüngern in Bezug auf die Heimat der Gläubigen: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten; und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit da, wo ich bin, auch ihr seid“ (Joh 14,2.3). Dies wird im 2. Korintherbrief ergänzt: „Wir wissen ja, dass, wenn unser irdisches Haus, das Leibeszelt, abgebrochen sein wird, wir einen von Gott bereiteten Bau erhalten, ein nicht von Menschenhänden hergestelltes, ewiges Haus im Himmel. In diesem (gegenwärtigen) Zustand seufzen wir ja auch, weil wir danach verlangen, mit unserer himmlischen Behausung überkleidet zu werden, da wir ja (erst dann), wenn wir diese angelegt haben, nicht unbekleidet erfunden werden. Denn solange wir uns noch in diesem Leibeszelt (hier) befinden, haben wir zu seufzen und fühlen uns bedrückt, weil wir lieber nicht erst entkleidet, sondern (sogleich) überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde ... So haben wir denn allezeit guten Mut, und da wir wissen, dass, solange wir unsere Heimat im Leibe haben, wir fern vom Herrn in der Fremde leben. Denn wir wandeln (hier noch) in (der Welt des) Glaubens, nicht schon in (der Welt) des Schauens –, so haben wir guten Mut, möchten jedoch lieber aus dem Leibe auswandern und in die Heimat zum Herrn kommen. Darum bieten wir auch allen Eifer auf, mögen wir uns (schon) in der Heimat oder noch in der Fremde befinden, ihm wohlgefällig zu sein“ (2. Kor 5,1B9).
Wenn es lange Zeit so war, dass sich nur derjenige in einer Gemeinde niederlassen durfte, der dort Heimatrecht besaß, dann gilt das auch für den Himmel. Dort haben die Christen ihr Bürgerrecht (vgl. Eph 1,3), da dort bei Christus ihre eigentliche Heimat ist (vgl. Phil 3,20). Hier sind sie schon jetzt „gesegnet mit jeder geistlichen Segnung“ (Eph 1,3); von dieser Perspektive sollte ihr Sinnen auf der Erde und die Treue im Leben Gott gegenüber geprägt sein, und dorthin sollten wir uns sehnen, also Heimweh haben – wie beispielsweise Johann Heinrich Jung-Stilling.
Als er 76 Jahre alt war (1816), schwanden seine Kräfte immer mehr. Er schrieb: „Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele vorüber und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleyer bedeckt ist, den ich erst lüften werde, wenn meine Hülle im Grabe ruht, und der Auferstehung entgegen reift.“ – „Nie werde ich auch vergessen“, so der Schwiegersohn über Jung-Stilling und seine Frau, „wie sich beide über diesen gemeinsamen Übergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiterkeit, womit sie darüber sprachen, wie sie wohl sonst von einer vorgenommenen Reise redeten ... die lieben Eltern freuten sich auf diese Reise.“ Am 22. März 1817 trat Ehefrau Elise die „Reise“ an. Elf Tage später folgte Jung-Stilling in Gegenwart seiner versammelten Familie. Das, was er in einem seiner Bücher geschrieben hatte, war Wahrheit geworden: „Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“
Jochen Klein
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