1. Angst am Ende des 20. Jahrhunderts
Heute ist Dienstag, der erste Tag des schriftlichen Abiturs. Peter hat Angst. Wovor? Seine sieben Geschwister haben ein Einser-Abitur. Sie kannten nichts anderes als Bücher lesen und lernen. Er dagegen spielte nach der Schule lieber Fußball oder baute Holzhütten im Wald. Als er ein eigenes Mofa bekam, tüftelte er fast jeden Tag daran herum. Wenn das Moped der Kameraden nicht mehr lief, kamen sie zu ihm. Nach kurzer Zeit konnten sie dann wieder zu den Bombenkratern aus dem zweiten Weltkrieg zurückkehren, um die Haltbarkeit der Stoßdämpfer zu testen. Aber heute ist, wie gesagt, schriftliches Abitur. Warum er jetzt hier sitzt und nicht in einer Werkstatt steht und Motoren zusammenbaut, weiß er nicht. Eines aber weiß er: Er hat Angst.
Wie Peter haben viele Menschen Angst, Herannahendes nicht bewältigen zu können, ob es real ist – wie beispielsweise eine Prüfung B, oder ob es ihrer eigenen Phantasie entspringt. Sei es die Angst vor Entscheidungen, vor anderen Menschen, vor eigenem Versagen, vor der Zukunft ganz allgemein, vor Krankheit, vor der Zerstörung der Umwelt, vor Einsamkeit oder das, was alle Menschen betrifft, die Angst vor dem Tod.
Mit einem gewissen Maß an Angst hat jeder zu kämpfen. Es gibt aber auch schwerwiegendere Erscheinungsformen: „Die Panik kommt plötzlich und packt Junge wie Alte, Männer wie Frauen: Etwa sechs Millionen Deutsche leiden an scheinbar unerklärlichen Angstattacken B Alkoholsucht, Depressionen und die völlige Zerrüttung des Lebens können folgen. Ärzte sind überfordert, Therapeuten wissen keinen Ausweg.“[1] Für den Psychologen Hans-Ulrich Wittchen vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie „sind die neunziger Jahre ‚das Jahrzehnt der Angst’“[2]. Was nun „normale oder krankhafte Angst ist, entscheiden keine objektiven Kriterien, mögen auch psychiatrische Diagnosetabellen diesen Anschein erwecken“[3].
Im Laufe der Zeit ist der Mensch, vornehmlich dadurch, daß die Wissenschaft die Vernunft des Menschen an die Stelle der Autorität der Bibel setzte, „psychologisch zum Triebwesen degradiert, historisch als Zufall propagiert und physikalisch als Zusammensetzung vieler Atome erklärt“[4] worden. Heutzutage sieht das dann so aus, daß die Menschen sich „jenseits von Religion und Tradition ... ihre Einstellung zum richtigen Leben zusammen[basteln], einen eigenen Kosmos aus Idealen“[5]. Dies nennt man „Individulisierung“. Sie hat „der Jugend wunderbare Wahl- und Handlungsfreiheiten gebracht. Aber die Entwicklung hat ein Doppelgesicht: Die heranwachsenden Individuen stehen unter dem neuen Zwang, ihre Lebensläufe selbst herzustellen und schon in frühen Jahren wichtige Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen sie in der verwirrenden Welt mit ihren rasanten Veränderungen und komplizierten Rückkopplungen nicht ermessen können. Daraus erwächst ein quälendes Gefühl der Verunsicherung“[6]. „Treten nun persönliche Krisen und Gefährdungen auf, ist jeder mit sich (und dem Sozialamt) allein.“[7]
Wenn dann der österreichische Schriftsteller Robert Menasse als Sprachrohr der heutigen Generation der Intellektuellen am Ende seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1995 sagt: „Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern. Dieses Singen soll uns die Angst nehmen“[8], dann verwundert es nicht, daß auch den „Normalbürger“ allgemeine Ratlosigkeit befallen hat. Die Symptome lassen sich allenfalls bekämpfen. Wo aber liegt die Ursache?
2. Angst und ihre Überwindung in der Bibel
Die Ursache für all diese Probleme liegt lange zurück. Es war im Garten Eden, wo Adam und Eva nicht auf die Stimme Gottes gehört hatten und sündigten. Nachdem sie dies erkannt hatten, hörten sie „die Stimme Gottes des HERRN, der im Garten wandelte bei der Kühle des Tages“ (1. Mo 3,8). Daraufhin „versteckten [sie] sich vor dem Angesicht Gottes des HERRN mitten unter die Bäume des Gartens“ (V.8). Als er dann rief, erklärten sie ihr Verschwinden so: „Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich“ (V.10).
Seit dieser Zeit ist der Mensch ursprünglich von Gott entfernt und fürchtet sich vor ihm. Hiob drückt die Bedrängnis des Ungläubigen sowie seine Suche nach Sicherheit folgendermaßen aus: „Die Stimme von Schrecknissen ist in seinen Ohren, im Frieden kommt der Verwüster über ihn; er glaubt nicht an eine Rückkehr aus der Finsternis, und er ist ausersehen für das Schwert. Er schweift umher nach Brot B wo es finden? Er weiß, daß neben ihm ein Tag der Finsternis bereitet ist. Angst und Bedrängnis schrecken ihn, sie überwältigen ihn wie ein König, gerüstet zum Sturm“ (Hiob 15,21-24). „Schrecken ängstigen ihn ringsum und scheuchen ihn auf Schritt und Tritt“ (18,11). „Die Augen der Gesetzlosen werden verschmachten; und jede Zuflucht ist ihnen verloren, und ihre Hoffnung ist das Aushauchen der Seele“ (11,20).
Die Hoffnung, die es gibt, liegt nicht in Rezepten, so gut sie auch sein mögen, sondern in einer Person begründet. Der Herr Jesus sagt: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben (zur Ruhe bringen). Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,28-30).
Vielen Gläubigen ergeht es so wie den Jüngern des Herrn, als sie mitten auf dem See waren: Ihre Seelen waren nicht ruhig, sondern das Schiff „litt Not von den Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen“ (Mt 14,24). In dieser schwierigen Situation kam dann noch etwas Unvorhersehbares hinzu, was sie nicht einzuordnen vermochten: Ihnen kam eine Gestalt auf dem Wasser entgegen. Als sie dies sahen, „wurden sie bestürzt und sprachen: Es ist ein Gespenst! und sie schrieen vor Furcht“ (V. 26). Dann hörten sie aber eine bekannte Stimme: „Sogleich aber redete Jesus zu ihnen und sprach: Seid gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch nicht!“ (V. 27). Sie glaubten seinen Worten, und die Angst wich.
Bei dieser Begebenheit sehen wir, wie sich die Jünger beruhigten, als sie die Stimme ihres Meisters gehört hatten. Lange bevor sich dies ereignete, führte der König von Syrien Krieg gegen Israel. Um den Propheten Elisa zu fangen, hatte er ein starkes Heer nach Dothan gesandt, das noch in der Nacht die Stadt umzingelte. „Und als der Diener des Mannes Gottes früh aufstand und hinaustrat, siehe da, ein Heer umringte die Stadt, und Pferde und Kriegswagen“ (2. Kön 6,15). Die Lage war aussichtslos, fliehen zwecklos. Wir haben also zwei beispielhafte Situationen: Einmal eine Bedrohung, die aus der Ungewißheit resultierte und deswegen nicht eingeschätzt werden konnte (die Jünger auf dem See), und hier nun konkrete Bedrängung von außen und scheinbar keinen Ausweg.
Der Diener wußte aber, an wen er sich in seiner Ratlosigkeit zu wenden hatte. Er sprach zu Elisa: „Ach, mein Herr! was sollen wir tun? Aber er sprach: Fürchte dich nicht! Denn zahlreicher sind die, die bei uns sind, als die, die bei ihnen sind. Und Elisa betete und sprach: Herr, öffne doch seine Augen, daß er sehe! Da öffnete der Herr die Augen des Dieners; und er sah: und siehe, der Berg war voll feuriger Pferde und Kriegswagen, rings um Elisa her“ (2. Kön 6,15-17). Er wendete also gewissermaßen den Blick des Dieners von der sichtbaren auf die unsichtbare Welt. Diejenigen, die meinten, die Situation im Griff zu haben, nämlich die Feinde Israels, wurden dagegen von Gott mit Blindheit geschlagen (V.18).
3. Zusammenfassung
Wie Peter Angst vor dem Abitur hat, so hat jeder Mensch ein gewisses Maß an Angst vor verschiedenen Dingen. Die allgemeine Ratlosigkeit, die Menschen ergreift, findet ihren Ursprung darin, daß Adam und Eva nicht auf die Stimme Gottes hörten. Da auch die heutige Gesellschaft nicht mehr auf die Stimme Gottes hören möchte, ist ein +Jahrzehnt der Angst* die zwangsläufige Folge. Immer noch gilt das Wort des Herrn Jesus: „Kommet her zu mir, alle ...“. Wenn sich nun diejenigen, die an ihn glauben, in einer Enge oder Bedrängnis befinden (was das Wort +Angst* auch ursprünglich bedeutet), dürfen sie (wie der Knabe Elisas) ihre Augen auf die unsichtbare Welt richten, und (wie David) erfahren: „Du machtest Raum meinen Schritten unter mir, und meine Knöchel haben nicht gewankt“ (Ps 18,36).
Jochen Klein
[1] Angst vor der Angst*. In: Der Spiegel, Nr. 46 vom 15.11.1993, S. 130.
[2] ebd. vgl. auch Hania Luczak: "Angst". In: Geo, Nr. 4/April 1996, S. 86: "Mindestens zehn Prozent der Bevölkerung leiden hierzulande an deren krankhafter Ausprägung. Wissenschaftler sprechen bereits vom EJahrzehnt der Angst". "Wenn der Trend sich nicht bald umkehrt", sagt der Dresdner Angstforscher Jürgen Margraf, "haben wir hier in zehn Jahren ein Volk von Depressiven" (ebd., S. 96).
[3] Horst-Eberhard Richter: Umgang mit Angst. Hamburg 1992, S. 15.
[4] Michiaki und Hildegard Horie: Umgang mit der Angst. Wuppertal 71995, S. 11.
[5] Nikolaus von Festenberg: "Erst kommt das Dressing, dann die Moral". In: Der Spiegel, Nr. 39 vom 25.09.1995, S. 70.
[6] "Das Soziale löst sich auf". In: Der Spiegel, Nr. 3 vom 15.01.1996, S. 102.
[7] "Individualisierung". In: Sighard Neckel: Die Macht der Unterscheidung. Beutezüge durch den modernen Alltag. Frankfurt am Main 1993, S. 73.
[8] Robert Menasse: "Geschichte der größte historische Irrtum. Über die von Menschen betriebene Befreiung der Welt von den Menschen - Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse". In: Die Zeit, Nr. 42 vom 13.10.1995, S. 80.
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