Im Laufe der abendländischen Geschichte rückte im Zuge der Renaissance und der Epoche der Aufklärung der Verstand des Menschen immer mehr in den Vordergrund. So kam es dazu, dass Theologen nach diesen weitgehend christentumsfeindlichen Bewegungen bis heute z.B. behaupten, nach der Aufklärung könne man nicht mehr an Wunder glauben und vieles in der Bibel sei nicht wahr. Die so neu erfundene Theologie ist gleichsam wie eine neue Religion oder Weltanschauung und hat mit dem biblischen Christentum nicht mehr viel Zentrales gemeinsam. Die 1968er-Bewegung beschleunigte dann noch einmal die negativen Entwicklungen, was immer mehr Wertelosigkeit, Gottlosigkeit und Ratlosigkeit zur Folge hatte.[1]
Die konkreten Auswirkungen unter denen, die sich zum Christentum bekennen, sind z.B. Folgende:
Manche „Christen“ meinen, dass sie keinen Gott mehr brauchen, geschweige denn den Glauben an die Auferstehung und das ewige Leben. Und das trifft selbst auf aktive Kirchenmitglieder zu.[2] So verwundert es nicht, dass Konfirmanden z.B. Folgendes bekennen: „Ich bin froh, evangelisch zu sein, denn evangelisch sein bedeutet, zu glauben, was man will“[3] oder wenn die Pastorin der United Church in West Hill (Toronto) sich mittlerweile selbst als Atheistin bezeichnet und sagt: „Ich habe kein Problem damit, die Kirche aus dem Christentum herauszuführen.“[4] Wer weitere Beispiele sucht, muss sich z.B. nur im Zusammenhang mit evangelischen Kirchentagen informieren.
Gleichzeitig gibt es aber außerhalb der großen Kirchen in Deutschland einen großen Markt zur Erfüllung spiritueller Sehnsüchte, in dem von klassischen fernöstlichen Weisheitslehren bis zu schamanischen Zeremonien kaum eine Nische unbesetzt sein dürfte. An dieser Entwicklung wird deutlich, dass die Menschen einen starken Hang zum Wunderglauben haben, der aber nun jenseits der christlichen Kirchen bedient wird. Weitere Dinge, auf die vertraut wird, sind der Sozialstaat, Versicherungen, Medizin und Psychotherapie.
Eine treffende Analyse der kirchlichen Entwicklung lieferte Prof. Friedhelm Jung in ideaSpektrum:
„In den vergangenen 50 Jahren haben sich die 20 in der Evangelischen Kirche von Deutschland (EKD) zusammengeschlossenen Landeskirchen immer weiter von der biblischen Wahrheit und ihren eigenen Bekenntnisgrundlagen entfernt. Anfangs leugneten Theologieprofessoren wie Rudolf Bultmann (1884–1976), Willi Marxsen (1919–1993) und Herbert Braun (1903–1991) den Sühnetod Jesu, seine leibliche Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft. Später wurde Jesus als einziger Heilsweg abgelehnt und humanitäre Hilfe an die Stelle von Mission gesetzt, und aktuell behaupten die Landeskirchen, dass die gottesdienstliche Segnung und Trauung von Homosexuellen ein Gott wohlgefälliger Akt sei.
Der Bibel verpflichtete Christen aus den Landeskirchen, die auch als ‚Evangelikale‘ bezeichnet werden, haben gegen diese Verirrungen von Anfang an gekämpft. So hat die Mitte der 1960er Jahre gegründete Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘ mit viel Elan und großer Sachkompetenz den theologischen Niedergang der Landeskirchen aufzuhalten versucht – leider ohne Erfolg. In der Folge haben zahlreiche Mitglieder der Landeskirchen resigniert einen Wechsel in die Freikirchen vollzogen. Inzwischen hat aber auch die einst klar evangelikal orientierten Freikirchen und den Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband ein kräftiger Säkularisierungsschub erreicht.“[5]
Postevangelikal
Die Bewegung, die mit dafür verantwortlich ist, dass oben genannte bedenkliche Aspekte zum Teil in evangelikalen Gemeinden Einzug gehalten haben, nennt man „postevangelikal“. Markus Till schreibt dazu: „Schon der Begriff macht deutlich, was diese Christen charakterisiert: Sie haben eine bedeutende Zeit ihres Lebens im evangelikalen Umfeld verbracht.“[6] Als „evangelikal“ wird dabei ein Glaube verstanden, der vor allem die Bibel als wesentliche Offenbarung Gottes an den Menschen versteht und diese auch als Autorität für ein Gott gerechtes Leben anführt. Till schreibt weiter: „Die Vorsilbe ‚post‘ (lateinisch für ‚nach‘) macht aber auch deutlich: Aus irgendeinem Grund haben sie zumindest teilweise die evangelikale Art des Glaubens hinter sich gelassen.“[7] Und Berthold Schwarz konkretisiert: „‚Post-evangelikal‘ bedeutet, dass die vertretenen ‚neuen‘ Thesen aus den Reihen der pietistischen, evangelikalen und reformatorisch-konservativen Frömmigkeitsformen kommen – also nicht direkt aus der humanistisch gesinnten, aufklärerisch-bibelkritischen Szene in Theologie und Kirche. Denn dort werden seit gut 200 Jahren unterschiedliche theologische und exegetische Thesen propagiert. Neu ist, dass die fromm-pietistisch-evangelikale Szene sich nun anschickt, diese Thesen in inhaltlicher Verdünnung wie ein trockener Schwamm aufzusaugen.“[8]
Worthaus
Zentral für diese Entwicklung ist die Veranstaltungsreihe „Worthaus“. Till schreibt: „Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen. Eine Analyse der Worthaus-Vorträge zeigt: Die evangelikale Bewegung steht vor einer grundlegenden Entscheidung, wenn sie nicht in den Abwärtsstrudel der liberal geprägten Kirchen mit hineingezogen werden möchte.“[9]
„Worthaus“, so Till weiter, „ist eine frei zugängliche, sich ständig erweiternde Mediathek mit theologischen Vorträgen … Fast alle Referenten bei Worthaus kommen aus der universitären evangelischen und katholischen Theologie … Worthaus-Referenten sind auch auf evangelikalen Großveranstaltungen … anzutreffen. Schon die Gründung von Worthaus ist auf Vorträge von Prof. Zimmer auf dem evangelikalen Sping-Ferienfestival zurückzuführen. Prof. Zimmer berichtet, Worthaus habe ‚viele, viele zehntausend Hörer‘ … Sein Eindruck ist: ‚Die Pastorenfortbildung läuft eigentlich über Worthaus.‘ Worthaus ist also auch unter Evangelikalen angekommen.“[10]
Was kennzeichnet Worthaus?[11]
Positive Grundeinstellung zur universitären Theologie und der damit zusammenhängenden „modernen Bibelwissenschaft“.
Fazit
Thomas Jeising fasst zusammen: „Wer sich die Entwicklungen des post-evangelikalen Glaubens anschaut, der kommt nicht an der Behauptung vorbei, dieser lese die Bibel genauer, nicht weil er sie wörtlich nehme, sondern weil er sie ernst nehme. Aber ‚zufällig‘ führt diese Art von ‚Ernstnehmen‘ der Bibel fast durchweg zu einer Anpassung des Glaubens an die Überzeugungen der gegenwärtigen, kulturell gängigen Denk- und Wertesysteme (dem sog. ‚Zeitgeist‘). Man ‚entdeckt‘ dabei, dass die Bibel gar nicht prinzipiell gegen homosexuelle Lebenspraxis sei, sondern wolle, dass diese Beziehung vielmehr liebevoll gestaltet werde. Die Bibel habe nichts gegen Sex vor der Ehe. Sie vertrete eigentlich gar keine blutige Sühnetheologie. Ihre Schöpfungsbotschaft sei ganz im Einklang mit dem Glauben an die Entstehung des Lebens in evolutionären Prozessen über mehr als 100 Millionen Jahre. Eigentlich sei die Bibel auch nicht intolerant gegenüber anderen Religionen, soweit diese die Menschenrechte achten … Man will oder kann sich an bestimmte ethische Maßstäbe der Bibel nicht mehr halten. Aber statt zu sagen: ‚Das steht zwar in der Bibel, aber wir machen es jetzt anders‘, wird so lange an den Aussagen der Bibel herumgedeutet, bis sie mit der selbstgewählten Moral übereinstimmen. Man will Gott auf seiner Seite wissen und sich sagen können, dass man doch alles richtig macht“.[12]
„Das Ganze ist an keiner Stelle eine neue Botschaft. Wer die Theologiegeschichte der vergangenen 100 Jahre überschaut, weiß, dass die Art von Glauben, …der Glaube ist, der nach dem Siegeszug der historisch-kritischen Theologie aufgerichtet wurde und dessen Spitze darin liegt, dass man an die Auferstehung glauben will, auch wenn der Körper von Jesus Christus im Grab geblieben ist … Das Ziel ist letztlich die Überwindung eines ‚prämodernen‘, bibelgebundenen Kinderglaubens, der auf das historische Heilshandeln Gottes aufbaut, wie es in der Bibel bezeugt ist, hin zu einer aufgeklärt mystischen Frömmigkeit als einem postmodernen ‚Glaubensstil‘.“[13]
Fassen wir die Entwicklung zusammen, so stellen wir fest: Den Menschen und nicht das Wort Gottes in den Mittelpunkt zu stellen bringt negative Folgen mit sich und führt letztlich auch zum Abfallen vom biblischen Christentum. Aufklärung und 1968er-Bewegung haben diese Entwicklung forciert; andere Faktoren spielen selbstverständlich ebenfalls eine Rolle. Dass das Ausklammern Gottes oder ein selbstgezimmertes Gottesbild immer negative Konsequenzen hat, machen auch viele Bibelstellen deutlich. Diese Entwicklung manifestiert sich heute u.a. in einer zunehmenden Akzeptanz von Sterbehilfe und Abtreibung, in der wachsenden Bedeutung des Aberglaubens, der Banalisierung des Evangeliums, der Schwächung von Ehe und Familie, der zunehmenden Bedeutung des Gender Mainstreaming usw. Ein von Gott losgelöster Verstand, der im Mittelpunkt des Denkens steht und dem eine überhöhte Bedeutung zugemessen wird, kann aber nur in die Irre führen (vgl. 1. Kor 1,18–25.30; 3,18.19). Einige dieser Verirrungen sahen wir oben. Möge Gott uns davor bewahren, selbst in dieses Fahrwasser zu geraten.
Weiter ist zu beachten, dass unser Denkvermögen erst durch die Wiedergeburt zur eigentlichen, gottgewollten Funktion gelangt. Es wird so verändert bzw. wiederhergestellt. Bedenken wir schließlich: „Denn obwohl wir im Fleisch wandeln, kämpfen wir nicht nach dem Fleisch; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern göttlich mächtig zur Zerstörung von Festungen; indem wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus und bereit stehen, allen Ungehorsam zu strafen“ (2. Kor 10,3–6). Tun wir dies nicht, werden wir früher oder später das Schicksal der liberal geprägten Kirchen teilen. Möge Gott uns vor diesen falschen Wegen bewahren, und mögen wir uns auch bewahren lassen! Und bedenken wir: „Wenn die Grundpfeiler umgerissen werden, was tut dann der Gerechte?“ (Ps 11,3). „Die Worte des HERRN sind reine Worte – Silber, das geläutert im Schmelztiegel zur Erde fließt, siebenmal gereinigt. Du, HERR, wirst sie bewahren, wirst sie behüten vor diesem Geschlecht bis in Ewigkeit“ (Ps 12,7.8).[14]
Ausführlicher sind diese Gedanken in zwei Aufsätzen zu diesen Themen entfaltet worden, nachzulesen auf www.jochenklein.de.
Jochen Klein
[1] Vgl. zu Aufklärung und 1968er-Studentenbewegung Jochen Klein: „Geschichte(n) erzählen“, in komm und sieh 55/2019, S. 16–19.
[2] Vgl. Der Spiegel 17/2019, S. 41.
[3] ideaSpektrum 21/2019, S. 19.
[4] Der Spiegel 17/2019, S. 44.
[5] ideaSpektrum 18/2019, S. 19
[6] Markus Till: Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen, Holzgerlingen (SCM R. Brockhaus) 2019, S. 9.
[7] Ebd.
[8] Berthold Schwarz: „Ein Wort zur Einführung“, in: Thomas Jeising (Hrsg.): Knapp daneben ist auch vorbei. Holzwege post-evangelikalen Glaubens, Dillenburg (CV) 2019, S. 16.
[9] Markus Till: „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“, in: Knapp daneben ist auch vorbei, S. 19.
[10] Ebd., S. 20f.
[11] Vgl. dazu ebd, S. 21ff. und Thomas Jeising: „Mutig antworten. Die Herausforderung durch eine post-evangelikale Theologie konstruktiv annehmen“, ebd., S. 172ff. Markus Till: Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen.
[12] Jeising: „Mutig antworten“, S. 174 u. 180.
[13] Thomas Jeising: „Weiterglauben – doch nicht so. Ein Beitrag zur Debatte darüber, wie der Glaube weit wird, ohne seine Bindung zu verlieren“, in: Knapp daneben ist auch vorbei, S. 50 u. 70.
[14] Vgl. zu diesem Thema auch den Artikel Jochen Klein: „Das moderne Denken und die Bibelkritik“, www.jochenklein.de.
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