denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Das moderne Denken und die Bibelkritik

Modern zu sein ist wichtig, denken viele. Bedeutet das doch, auf dem neuesten Stand zu sein – zum Beispiel technisch, gesellschaftlich, kulturell oder geschichtlich. Der Vorwurf, nicht modern, nicht zeitgemäß zu sein, wiegt in manchen Zusammenhängen so schwer, dass er geradezu einer Beleidigung gleichkommt. Wenn es um das moderne oder nichtmoderne Denken geht, ist es ähnlich. Im Folgenden soll deshalb ein kleiner Überblick über das moderne Denken gegeben und anhand biblischer Prinzipien darüber nachgedacht werden, ob es erstrebenswert ist, diesem zu entsprechen.

Das Mittelalter

Wenn wir uns die ersten Universitäten in unserem Kulturkreis anschauen, ist es interessant festzustellen, dass sie heidnische Institutionen waren. Die letzte Universität des Altertums in Athen wurde 529 n. Chr. von dem christlichen Kaiser Justinian geschlossen, weil ihr Lehrstoff die Philosophie der Heiden war. Die Wiederherstellung der Institution Universität gegen Ende des 12. Jahrhunderts geschah dann im Zusammenhang mit der Aufnahme heidnischen Kulturguts als Studienobjekt. Man wollte auch durch die Werke der Heiden Weisheit lernen. Konkret waren es die Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles (380–320 v. Chr.), die die Universitätsgründung in Paris veranlassten. Die Auseinandersetzung mit diesen Schriften geschah im Zusammenhang mit der Theologie.

Die Scholastik* bemühte sich dann, die neuen rationalen Erkenntnisse mit den Glaubenssätzen in Übereinstimmung zu bringen, was die gesamten theologischen Anstrengungen des Hoch- und Spätmittelalters ausmachte. Man meinte also, zur Orientierung neben der Bibel die Philosophie heidnischen Ursprungs zu benötigen. Die Folge davon war, dass man das Wort Gottes nur noch als einen von zwei Bezugspunkten des Denkens nahm und das Prinzip verließ, dass in „Christus alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen“ sind (Kolosser 2,3). Anfangs maß man der Bibel zwar noch mehr Bedeutung bei als der Philosophie, aber es dauerte nicht lange, bis die heidnische Denkweise nach und nach die Oberhand gewann. Als Gebildete waren die Theologen zwar in der Lage, das, was die Philosophen schrieben, geistig zu erfassen. Eine kritische Auseinandersetzung mit relevanten Aspekten hätte sicherlich notwendig und sinnvoll sein können. Stattdessen nahm aber die Theologie mehr und mehr die atheistisch-antigöttlichen Voraussetzungen der Philosophie als ihre eigene Denkgrundlage an, auch wenn vielen Theologen dies nicht bewusst war und das Kirchenvolk es nicht bemerkte.

Die Einbeziehung der Philosophie des Aristoteles in die Theologie des Mittelalters wurde unterschiedlich umgesetzt. Fest steht aber, dass sie von nun an für die Theologen als zweite Erkenntnisquelle neben der Bibel galt. Diese Entwicklung hat Folgen bis heute, da so die gedankliche Basis nicht mehr die Heilige Schrift ist, sondern eben die weltliche Philosophie. Eine konkrete Konsequenz zeigt sich in Bezug auf das Weltbild. Aristoteles vertrat z. B. die Auffassung, die Sonne drehe sich um die Erde. Sein Weltbild wurde im Laufe der Zeit für das Weltbild der Antike gehalten. Als man die Bibel dann irgendwann als „antikes Buch“ abwertete, unterstellte man ihr irrigerweise, ihr Weltbild sei das Weltbild der Antike, also das Weltbild des Aristoteles gewesen. Folglich schrieb man alle Irrtümer des Aristoteles auch der Bibel zu und zog den Fehlschluss, wegen dieses überholten Weltbildes bedürfe sie der Entmythologisierung. Das Weltbild des Aristoteles war aber nicht das Weltbild der Antike, sondern nur eines unter anderen. Es war auch nicht das Weltbild der Bibel (auch weil das Alte Testament längst geschrieben war, als Aristoteles 380 v. Chr. geboren wurde).

Der Humanismus

Bereits zur Zeit der alten Kirche hatte es von Philosophen Kritik am christlichen Glauben und an der Heiligen Schrift gegeben. Sie trat von außen, aus dem Heidentum an die Kirche heran. Apologeten* und Kirchenväter setzten sich mit ihr auseinander. Ab ca. 1400 n. Chr. gewann aber der Humanismus immer mehr an Einfluss. Dabei stand nicht Gott, sondern der Mensch im Mittelpunkt des Denkens. Das hatte Auswirkungen für die Theologie, die sich dieser Denkweise verschrieb. Bis heute kann man vielfältige Erscheinungsformen dieses Denkens beobachten.

Am Anfang des Denkens der Neuzeit gingen die geistig einflussreichsten Personen also hinter das biblische Denken zurück und suchten ihre Orientierung in der heidnischen Antike. Die Humanisten machten den Menschen zum Maß aller Dinge. Dies stellte eine entschiedene Abkehr vom biblischen Denken dar, auch wenn biblische Begriffe noch reichlich verwendet wurden. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass einige Humanisten sowohl gegen die Antike als auch gegen das Christentum kritisch eingestellt waren und andere im Christentum noch bestenfalls eine Bildungsreligion sahen, die in „Sitte und Sittlichkeit“, in „Wissenschaft und Kultur“ gipfelte. So wurde das Christentum nicht mehr als etwas angesehen, das einen lebendigen Glauben ausmachte, sondern als Religion, die mit anderen vergleichbar wäre. Fortan wurde auch die Bibel am Maßstab der Kultur gemessen, und ihr Charakter als Offenbarung Gottes spielte für die meisten keine Rolle mehr. Schließlich wurde jedem Produkt menschlichen Denkens und menschlicher Kreativität vom Humanismus der Charakter von Wahrheit zuerkannt, was faktisch einer Relativierung absoluter biblischer Gültigkeit gleichkam. Im Humanismus gilt nämlich nur eine Verpflichtung: die „Wahrheit“. Jeder Ertrag menschlichen Denkens und jedes Ergebnis menschlicher Kreativität wird als Wahrheit angesehen. Eine einzige Wahrheit existiere in der Welt, nur ihre Strahlen seien verschieden. Faktisch wird die Wahrheit dadurch aber relativiert. Alles kann wahr und wertvoll sein.  Und eine absolute Wahrheit gibt es für den Humanismus nicht.

Die moderne historisch-kritische Theologie übernahm dann vom Humanismus:

– den Anthropozentrismus: Nicht Gott ist der Ausgangspunkt und Mittelpunkt des Denkens, sondern der Mensch.

Die Relativierung der Wahrheit: Die historisch-kritische Theologie wagt es nicht mehr, sich auf die Bibel als Gottes Wort und Offenbarung zu berufen, sondern die Bibelstellen werden nach menschlichen Kriterien beurteilt, ob man sie als echt oder unecht bzw. als faktisch oder mythisch anzusehen hat.

Einordnung der Bibel in Kultur und Religion: Die Heilige Schrift wird als menschliches Kulturprodukt gesehen und mit anderen auf eine Stufe gestellt. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass der christliche Glaube nicht in Gottes Offenbarung begründet liegt, sondern eben als Kulturprodukt den anderen Religionen gleichzustellen ist.

Die Aufklärung

Die Epoche der Aufklärung brachte nichts grundlegend Neues. So behauptete Francis Bacon, jegliche Wahrheit werde induktiv* gefunden; er trennte den Bereich der Vernunft und Wissenschaft von demjenigen des Glaubens und der Religion ab und definierte den Glauben als ein Opfern des Verstandes. Auch Thomas Hobbes trennte Glauben und Denken radikal und verwies die Dinge des Glaubens in den nicht verifizierbaren* paradoxen Bereich der Absurditäten und Widersprüchlichkeiten. Damit waren sowohl die Grundlagen für die Bibelkritik gelegt als auch der atheistische Ansatz, der sämtliche Wissenschaften bestimmen sollte.

Der Aristotelismus und der Humanismus schufen die antitheistischen Voraussetzungen, während die Philosophen der Aufklärung sich ausdrücklich mit der Bibelkritik befassten. Indem die Theologie auch die Aufklärungsphilosophie zu ihrer Denkgrundlage machte, wurde sie zur bibelkritischen Theologie. Die Theologie hat also von der Philosophie nicht nur die antitheistischen Denkvoraussetzungen übernommen, sondern auch die einzelnen Elemente der Bibelkritik. Aspekte davon sind konkret:

Francis Bacon (1561–1626): Die Wahrheit kann nur auf der Grundlage von Erfahrungen gefunden werden, die durch Vernunftschlüsse von der Einzelbeobachtung zu allgemeinen Gesetzen fortschreiten. Wie bereits erwähnt, wurde der Bereich der Vernunft und Wissenschaft vom Bereich des Glaubens getrennt. Diese Form von Frömmigkeit sei zu loben, da sie glaube, was dem Verstand nicht einleuchten könne.

Thomas Hobbes (1588–1679): Seiner Meinung nach geht jede Idee und jeder Gedanke auf einen Eindruck der fünf Sinne zurück. Er geht davon aus, dass das ganze Weltall Materie sei, und was nicht Materie sei, sei in Wahrheit nicht existent. Hobbes war der Begründer der rationalen Bibelkritik. Er erkennt die unsichtbare Welt nicht an und meint, der Verstand des Menschen sei das Wort Gottes, dem man sich nicht widersetzen dürfe. Diese Ideen waren mit dem Beginnen der Wunderkritik verbunden.

René Descartes (1596–1650): Seit ihm gilt das Prinzip des Zweifels als Grundlage der Philosophie und der Wissenschaft. Dass man alles hinterfragen müsse, wurde zum Grundprinzip des modernen Menschen, der ohne Gott lebt. Damit ist der Zweifel auch zum Grundprinzip aller Wissenschaften geworden – auch der Theologie, soweit sie sich als historisch-kritische Wissenschaft versteht.

Baruch de Spinoza (1632–1677): Er behauptete, die Bibel sei keineswegs Gottes Wort, aber in ihr sei Gottes Wort zu finden. Diese Auffassung geht also davon aus, dass nicht die ganze Bibel, sondern nur ein Teil Gottes Wort sei. Mit dieser Anschauung hatte Spinoza einen gewaltigen Einfluss, nicht nur auf die historisch-kritischen Theologen, sondern inzwischen auch auf einen Teil der Evangelikalen.[1] Er versuchte u. a. zu beweisen, dass die fünf Bücher Mose nicht von Mose geschrieben wurden, und behauptete, die Prophetenbücher im Alten Testament seien Stück für Stück aus den ursprünglichen Büchern der Propheten gesammelt worden und nur eine unvollständige Zitatensammlung. Diese Theorie wurde von der historisch-kritischen Theologie übernommen. Er war weiterhin der Auffassung, dass der Prophet Daniel sein Buch nur von Kapitel 8 bis zum Ende geschrieben habe. So steht seitdem das Buch Daniel unter Verdacht. Er säte auch Misstrauen gegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien und leugnete die Auferstehung Jesu als Ereignis und Tatsache. Als der Theologe Rudolf Bultmann (1884–1976) später schrieb: „Die Auferstehung ist kein historisches Ereignis“, war das bereits 200 Jahre vorher von dem Theologen Spinoza formuliert worden.

Weitere wichtige Namen in diesem Zusammenhang wären noch David Hume (1711–1776), Immanuel Kant (1724–1804) und Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Hume bezweifelte u. a. die Glaubwürdigkeit der Wunder; Kant meint, dass man kein objektives Wissen von Gott haben könne, sondern nur subjektive Überzeugungen. Das wurde mit geringfügigen Veränderungen zum Konzept der liberalen Theologie (der bibelkritischen Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Sie erkannte die Bibel nicht als Gottes Offenbarung an und sah Gottes Existenz als nicht objektiv gegeben. Der berühmte evangelische Theologe Schleiermacher berücksichtigte dann Kants Philosophie. Sein Einfluss in der evangelischen Theologie ist bis heute sichtbar.

Die historisch-kritische Theologie übernahm von der Aufklärung somit:

– die Trennung von Denken und Glauben

– die Behauptung, dass man aus der Bibel keine Gotteserkenntnis gewinnen könne

– die Idee der Höherentwicklung der Menschheit und den Fortschrittsgedanken

– das monistische Weltbild: die Ansicht, es gebe nur die eine, sichtbare Welt (Gegensatz zur Bibel: Unterscheidung in sichtbare und unsichtbare Welt).

– die Bibelkritik: Sie ist also aus der Philosophie in die Theologie eingedrungen. Nachdem die Theologie dem Aristotelismus und dem Humanismus Raum gegeben hatte, war sie in weiten Teilen bereit, sich auch für die Aufklärung samt ihrer Bibelkritik zu öffnen.

Der deutsche Idealismus

Der Ansatz des Humanismus kam dann im deutschen Idealismus voll zum Zug. Die Gründung des Bildungswesens im Menschenbild der klassischen Antike wurde vertieft, was vor allem Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zuzuschreiben ist. In diesem Zusammenhang entstand auch eine atheistische Geschichtswissenschaft, die das Bewusstsein für das Handeln Gottes von vorneherein ausschloss.

Resümee

Festzuhalten ist, dass es für ein Denken, das sich konsequent auf Gottes Offenbarung in seinem Wort gründete, an der Universität bald keinen Raum mehr gab, und das sowohl im weltlichen als auch im theologischen Bereich. So erscheint es heute für den Studenten, der sich auf eine Universität begibt, von vornherein klar, dass die Nichteinbeziehung Gottes in Studieninhalte selbstverständlich ist. Besonders im Bereich der Technik und der Naturwissenschaften meinen manche die Bestätigung dieses Denkansatzes zu finden. Mittlerweile zeichnet sich aber auch hier ab, dass viele dieser Bereiche so eben nicht völlig zu durchdringen sind, ganz zu schweigen z. B. von medizinischen, ökologischen und ethischen Fragen. Aber auch in den Geisteswissenschaften spielt das Fragen nach Gott nahezu keine Rolle mehr.

Dem amerikanischen Theologieprofessor Norman L. Geisler ist die grundlegende Einsicht zu verdanken, dass die Annahme vieler Theologen, die Bibel weise Irrtümer und Fehler auf, nicht auf einer wissenschaftlichen Untersuchung der Heiligen Schrift beruht, sondern (wie oben gezeigt) in der Philosophie verwurzelt ist. Ihm ist es gelungen, aufzuzeigen, wie die einzelnen Philosophen zu dem beigetragen haben, was die Basis der bibelkritischen Theologie geworden ist. [2]

Aktuelle Entwicklungen

Nicht zuletzt die oben dargestellten Entwicklungen haben dazu geführt, dass mittlerweile „ein Volk, ja ein ganzer Kontinent, den man früher ‚christliches Abendland‘ nannte, sich von seinem geistlichen und damit langfristig auch von seinem geistig-moralischen Fundament [verabschiedet] ... Der christliche Wahrheitsanspruch und der daraus folgende Missionsauftrag wird von einem säkularisierten, relativistischen Zeitgeist ebenso aggressiv abgelehnt wie der christliche Moralanspruch“.[3] So konstatiert der Infratest-Werteforscher Thomas Gensicke: „Das Christentum ist vielen nur noch der kulturelle Hintergrund, auf dem die Menschen sich ihre Religion zurechtlegen. Sich auf das christliche Abendland zu beziehen bedeutet nur noch Abgrenzung zum Islam.“

[1] Kritisches zu kirchlichen und (post)evangelikalen Entwicklungen auf www.jochenklein.de.

[2] Die zentralen Gedanken dieses Exkurses verdanke ich Eta Linnemann (vgl. Literaturverzeichnis).

[3] Andreas Püttmann: Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands, Aßlar (Gerth) 2010, S. 9 u. 18. Das andere Zitat ist ebenfalls diesem Buch entnommen.

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