denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Kritisches zum Fall Galilei

Die Annahme, das Christentum sei der Feind der Naturwissenschaft und der Atheismus ihr Verbündeter, verzerrt unsere Wahrnehmung vieler wissenschaftlicher Errungenschaften. So sind in der Vergangenheit immer wieder historische Fakten (bzw. deren Deutung) verfälscht und die Bedeutung von Ereignissen oder Personen mindestens verzerrt dargestellt worden. Dazu gehören auch die Begebenheiten rund um den Prozess von Galileo Galilei.

Galilei (1564–1642) war ein italienischer Naturforscher und wurde durch seine Leistungen auf dem Gebiet der Mechanik und Astronomie bekannt. Ab 1610 verteidigte er öffentlich das kopernikanische Weltsystem, das im Widerspruch zum traditionellen ptolemäischen stand. Der Streitpunkt war, ob sich die Erde um die Sonne dreht (Kopernikus) oder die Sonne und andere Planeten um die Erde (Tradition des Ptolemäus). Durch den Prozess, den die katholische Inquisition gegen Galilei anstrengte, steigerte sich sein Bekanntheitsgrad. Im zweiten Inquisitionsprozess 1633 leugnete er auf Druck der Kirche das kopernikanische System und wurde lebenslang unter Hausarrest gestellt.

Galileis Konflikt mit der katholischen Kirche wird oft als Meilenstein des Atheismus dargestellt, da hier ein mutiger Wissenschaftler eine Vorstellung vom Kosmos in Frage gestellt habe, die auf einer wörtlichen Lesart der Heiligen Schrift beruhte, und sich gegen die Kirche aufgelehnt habe. So wird dieses Ereignis als Argument gegen Wissenschaftler angeführt, die ihren Glauben an einen Schöpfer und ihre wissenschaftliche Forschung miteinander in Einklang bringen können. Entsprechend heißt es dann oft, der Glaube mache blind für wissenschaftliche Fortschritte und hindere die Wissenschaft. Tatsächlich lässt sich der Prozess gegen Galilei jedoch nicht als Argument für irgendeine Position zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft verwenden. Einige der Gründe werden im Folgenden benannt.

Seit der Aufklärung ist die Darstellung des Lebens Galileis von Legenden, (Märchen-)Mythen und Vorurteilen überwuchert. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem vierten Band der berühmten Encyclopédie der Aufklärung mit ihrem Artikel „Copernicus“ (1754) zu, da dieser viele moderne Galilei-Legenden erfand und berühmt machte. Neben dem glorifizierenden Bild schufen sich dann jeweilige Zeitströmungen den Galilei, den sie benötigten: den Bahnbrecher der Wahrheit oder den Renegaten (Abtrünnigen), den Märtyrer der Wissenschaft oder den listenreichen, taktierenden Eiferer. Die berühmtesten Legenden sind, dass Galilei über die Erde gesagt habe: „Und sie bewegt sich doch“, dass er am Schiefen Turm von Pisa naturwissenschaftliche Experimente gemacht habe und dass der Prozess gegen ihn den wissenschaftlichen Fortschritt in Italien für Jahrhunderte lahmgelegt habe.

So überrascht es auch nicht, dass der Ruhm dieses bekannten Gelehrten in der Hauptsache auf Entdeckungen beruht, die er nie machte: Im Gegensatz zu dem, was in vielen wissenschaftlichen Werken steht, erfand Galilei nicht das Teleskop, ebenso wenig wie das Mikroskop, das Thermometer oder die Pendeluhr. Er entdeckte weder das Trägheitsgesetz noch das Kräfte- und Bewegungsparallelogramm noch die Sonnenflecken. Er leistete keinen Beitrag zur theoretischen Astronomie; er bewies nicht die Richtigkeit des kopernikanischen Systems. Er wurde von der Inquisition nicht gefoltert, schmachtete nicht in ihren Verliesen und war kein Märtyrer der Wissenschaft.

Im Gegenteil: Galilei stand bis kurz vor seinem Prozess bei der römischen Kurie, bei den Jesuiten und insbesondere bei den Päpsten in hohem Ansehen. Seine Lehren wurden gefeiert. Der Kampf gegen ihn ging nicht nur von katholischen Funktionären aus, sondern gerade von seinen Wissenschaftlerkollegen, die um ihre Position fürchteten. So zögerte er z.B. aus Angst vor diesen und nicht vor der Kirche das öffentliche Bekenntnis zum kopernikanischen Weltbild hinaus.

Vor allem die unantastbare Stellung des Aristoteles, die Einfluss auf die Lehre der Kirche genommen hatte, machte es schwer, Galileis Hypothesen zu akzeptieren – nicht die Bibel. Die Philosophien von Aristoteles und Ptolemäus waren es nämlich, die die Menschen glauben ließen, die Erde sei fest und die Planeten (einschließlich der Sonne) drehten sich um diese. Sogar Galilei selbst blieb in Teilen Aristoteles’ Lehren verhaftet.

Weiterhin ist es falsch, dass Nikolaus Kopernikus (1473–1543) den Menschen entthront habe, da nun nicht mehr die Erde im Mittelpunkt stehe. In Wirklichkeit war der Status der Erde und der Menschheit gegenüber deren Bedeutung bei Aristoteles angehoben worden.

Galilei war ein Forscher, der an der Glaubwürdigkeit der Bibel festhielt und immer wieder zu zeigen suchte, dass das kopernikanische Weltbild durchaus mit der Bibel vereinbar sei. Er kämpfte gegen das herrschende Bibelverständnis, das dem Bibeltext nicht gerecht wurde, da es durch eine aristotelische Brille getrübt war. Galilei wurde nicht vorgeworfen, gegen die Bibel zu verstoßen, sondern gegen päpstliche Anordnungen und gegen das Verbot, eine Hypothese ohne Beweise als Wahrheit zu vertreten.

Eine zentrale Schwäche Galileis war, dass er überdurchschnittlich eigensinnig, empfindlich und aggressiv war und sich durch seine fortwährende scharfe Polemik selbst dort Feinde machte, wo man dem ptolemäischen Weltbild längst entsagt hatte. Seine Methode bestand darin, den Gegner lächerlich zu machen, und er hatte damit oft Erfolg. Man kann fast von einer pathologischen Verachtung anderer reden. Ein beliebtes Mittel war dabei die Satire.

Galilei war auch kein säkularer Wissenschaftler der Aufklärung, sondern ein überzeugter Katholik. Er lehnte nicht jede Metaphysik ab und forderte keine Trennung von Glaube und Wissenschaft. Gerade das Bemühen, die Vereinbarkeit seiner Lehren mit der Bibel nachzuweisen, führte unter anderem zum Konflikt mit der katholischen Hierarchie. Galilei war zwar nicht im herkömmlichen Sinne fromm, doch war er zutiefst überzeugt, dass Gott ihn auserwählt habe, nicht nur einige, sondern alle neuen Entdeckungen am Sternenhimmel zu machen. Die Beiträge anderer Astronomen betrachtete er im Vergleich zu seinen eigenen als minderwertig. Entsprechend ignorierte er auch viele andere Forscher, teilte ihnen seine Forschungsergebnisse nicht mit und glaubte geradezu, er allein mache wissenschaftliche Entdeckungen. So waren einige seiner Lehren bald schon wieder veraltet, vor allem durch die Forschungen von Johannes Kepler (1571–1630). Dessen stärkere Argumente nahm Galilei nicht zur Kenntnis und brach dann den Kontakt zu ihm für immer ab. Keplers berühmtes Werk Astronomia Nova (1609) ignorierte er beispielsweise völlig, obwohl es eine Weiterentwicklung von Kopernikus darstellte, die über Galileis Lehren hinausführte.

Galilei war auch kein rein experimentell arbeitender Wissenschaftler, auf jeden Fall nicht im Bereich der Astronomie. Er konnte nie einen Beweis für seine Theorie vorlegen. Die ersten Beweise lagen – je nach Auslegung – 50 oder 100 Jahre nach seinem Tod vor.

Auch von Ignoranz der katholischen Kirche in Bezug auf ihn kann keine Rede sein, im Gegenteil: Da, wo Galilei wirklich recht hatte, folgte man ihm letztlich; wo er sich irrte oder seine Argumente überschätzte, ließ man sich nicht blenden. Auch ist es schwer verständlich, warum Galilei nicht das einzige damals tatsächlich schlagende Argument benutzte: die Kepler’schen Gesetze. Der Papst und die Inquisition verlangten von Galilei nichts anderes als Beweise oder aber die Anerkennung des Hypothesencharakters des kopernikanischen Weltbildes. Galilei behauptete, den Beweis in Händen zu haben, weigerte sich aber, ihn vorzulegen, mit der Begründung, seine Gegner seien ohnehin zu dumm, ihn zu verstehen. Der entscheidende Beweis für die kopernikanische Weltsicht fehlte, und er überspielte dies durch Rhetorik. Dass Galilei, vielleicht mit dem Gespür des erfahrenen Naturwissenschaftlers, das richtige Weltsystem favorisierte, spricht zwar für ihn, doch es konnte seine argumentativen Schwächen nicht eliminieren.

Galilei wurde dann das Opfer der Politik von Papst Urban VIII. (1568–1644), der ihm zuvor sehr zugetan gewesen war. Schuld daran waren politische Umstände und persönliche Angriffe Galileis gegen den Papst, aber kaum religiöse Gründe. Damit war der Fall Galilei eigentlich nur ein innerkatholisches und inneritalienisches Problem einer sehr kurzen Zeitspanne, nicht aber ein gigantisches Ringen zwischen der Christenheit und der Wissenschaft schlechthin.

Die Hauptlinie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung präsentiert uns Galilei als den Antimetaphysiker und Antiphilosophen, den Initiator der auf Experiment und Beobachtung gestützten Physik, den Verteidiger der Ansprüche der Wissenschaft gegenüber den illegitimen Forderungen der Religion, den Fürsprecher der Trennung von Glauben und Wissen. Der herrschenden Wissenschaftshistoriografie kann daher der Vorwurf nicht erspart werden, die Schriften Galileis allzu selektiv gelesen zu haben. So schreibt Klaus Fischer: „Dieses Missverständnis führte zum Unvermögen einer korrekten Beurteilung der Galileischen Frühschriften (‚Juvenilia‘), zur Aussparung vieler Stellen spekulativen und metaphysischen Inhalts, die über Galileis Arbeiten zerstreut sind, – ja zu einer Fehleinschätzung dessen, wie Galilei das Verhältnis von Wissen und Glauben versteht, wie er den wissenschaftlichen Stellenwert religiöser Behauptungen, die Verbindlichkeit der Inquisition für die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Stellenwert seiner eigenen Kosmologie, Kosmogonie und anderer naturphilosophischer Überlegungen wie derjenigen zum Atomismus deutet.“

Der Galilei-Mythos sagt, ein Genius habe seine durch empirische Forschung gewonnenen Ergebnisse gegen religiöse Obskuranten (Fortschritts- und Bildungsfeinde) verteidigt und sei somit zum Vorboten der Befreiung des westlichen Denkens von allen Formen autoritärer Tradition geworden. Die Realität ist wie so oft vielschichtiger und komplexer. So kommt Lydia La Dous zu folgendem Ergebnis: Der „Fall Galilei“ in dem Sinne, dass Galileo Galilei Probleme mit der katholischen Kirche gehabt habe und schließlich verurteilt worden sei, weil er eine der Kirche nicht genehme neue naturwissenschaftliche Meinung vertreten habe, werde auch heute noch immer wieder als angeblicher Beweis für die Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche angeführt. Dieser „Fall“ habe aber „mit den historischen Ereignissen um Galilei sehr wenig zu tun. Auf Seiten des Papstes wie auf Seiten Galileis häuften sich die Fehler und Schwächen, auf beiden Seiten teils aus philosophischen Gründen, teils wegen ihres Egos. Daraus irgendwelche verallgemeinernden Schlüsse auf alle Wissenschaftler und alle Theologen und Kirchen zu ziehen, ist Geschichtsklitterung und unwissenschaftlich.“ Galilei trat nie für die Autonomie der Naturwissenschaft ein und war nicht – wie oft behauptet wird – deren Vater.

Bemerkt sei noch, dass Bertolt Brechts Drama Leben des Galilei in einer ausführlichen Untersuchung von Gerhard Szczesny mit der historischen Realität verglichen wurde. Szczesny kommt zu dem Ergebnis, dass Brecht den historischen Galilei geradezu auf den Kopf gestellt habe, um seine (kommunistischen) politischen Ziele zu propagieren.

So können wir abschließend Manfred Lütz zustimmen, wenn er schreibt: „Vielleicht ist der Fall Galilei die größte Medienente aller Zeiten“.

Literatur

Thomas Schirrmacher: „Und sie bewegt sich doch“ und andere Galilei-Legenden. 28 Thesen zum Prozess gegen Galilei. MBS Texte 115, 8. Jahrgang 2011. (Auf der Homepage des Autors herunterladbar.)

Jochen Klein

PDF herunterladen