denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Kritisches zur Fortschrittsidee

Wer hat diesen Satz nicht schon gehört? „An die Wunder der Bibel kann man heute nicht mehr glauben, heute muss man doch …“ usw. Das Heute wird also zum Maßstab genommen. In manchen Bereichen ist das auch nicht unbedingt falsch, z.B. wenn es sich um objektive Erkenntnisse in der Medizin handelt. Bei weltanschaulichen oder philosophischen Fragen ist diese Argumentation jedoch verfehlt, weil sie einen stetigen Fortschritt des Denkens voraussetzt – zum Teil mit fatalen Folgen. Es soll deshalb hier nicht um positiven Fortschritt gehen, sondern um die zum Teil problematischen Aspekte der Fortschrittsidee, damit wir für diesen weit verbreiteten Trugschluss und dessen Folgen sensibilisiert werden.

Die Idee des Fortschritts hat sich weitgehend im sogenannten Westen herausgebildet. Es ist der Glaube, dass die Menschheit sich in der Geschichte bis heute kontinuierlich weiterentwickelt habe und diesen Prozess in der voraussehbaren Zukunft weiterführen werde. Es geht dabei aber um etwas noch Grundsätzlicheres als nur um den Fortschritt z.B. in der Technik oder im Zusammenleben (der sich beispielsweise in der Abschaffung der Sklaverei zeigte).

Der englische Historiker John Bagnell Bury (1861–1927) geht davon aus, dass die Idee des Fortschritts Ende des 16. Jahrhunderts aufkam, als das christliche Weltbild durch den Einfluss des Humanismus an Bedeutung verloren hatte. Die Ideologie einer kontinuierlichen Vorwärtsentwicklung der Gesellschaft und Vervollkommnung des Menschen ist nämlich in ihrem tiefsten Kern eine eigenständige Religion, die sich mit aller Entschiedenheit – allerdings oft im Namen des Christentums – gegen den biblischen Glauben stellte. In dem humanistischen Credo „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ tritt schon in der Antike ein wesentlicher Aspekt des Fortschrittsglaubens ins Rampenlicht: Der Mensch könne dank eigener Bemühungen seine Lebenslage über jedes Maß hinaus verbessern.

In den westlichen Kulturen erlangte die Fortschrittsidee also eine besondere Bedeutung. Mittlerweile hat sie sich aber auch in anderen Teilen der Erde ausgebreitet. Dadurch glauben heute sehr viele, dass es ökonomisch, sozial und persönlich immer besser werden müsse. Die meisten Kulturen kannten diesen Fortschrittsglauben ursprünglich so nicht. Die alten Chinesen, Babylonier, Hindus, Griechen und Römer etwa sahen den Lauf der Geschichte prinzipiell anders – die einen als ewigen Kreislauf, die anderen als allmählichen Abstieg von einem vergangenen goldenen Zeitalter.

Auch christliche Denker sorgten dafür, dass die Idee des Fortschritts im Abendland eine zunehmende Zahl von Anhängern gewann. Die Griechen hatten weitgehend geglaubt, dass die Vermehrung menschlichen Wissens zu einer leichten Verbesserung der Lage der Menschheit führen würde, aber nur vorübergehend, bis zum nächsten Weltenbrand. Die Christen glaubten an die Einheit der ganzen Menschheit und dass diese sich auf eine gemeinsame herrliche Zukunft zubewege. Sie glaubten aber auch an ein Endgericht, in dessen Folge alles gut gemacht und in Ordnung gebracht würde. Dieser Glaube war nicht nur jenseitsorientiert, sondern viele erwarteten ein goldenes Zeitalter auf der Erde mit dem wiederkommenden Christus als König.

Während der europäischen Aufklärung ging die Idee des Fortschritts weiter, jedoch säkularisiert. Viele Denker kehrten der Religion und besonders dem Christentum den Rücken zu, aber den Glauben an den Fortschritt in der Geschichte gaben sie nicht auf. Bei der Säkularisierung der Fortschrittsidee wurde ein Prozess in Gang gesetzt, in dem der Fortschritt von einer jahrhundertealten Gottesbeziehung losgelöst und zu einem abstrakten historischen Prozess gemacht wurde. Diese säkulare Zukunftshoffnung ging von einer linearen, ständigen Aufwärtsbewegung schon in dieser Welt aus. So schrieb z.B. Gotthold Ephraim Lessing 1780 in seinem Werk Die Erziehung des Menschengeschlechts: „Sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung“.

Drei Denker hatten in Bezug auf die Fortschrittsidee einen besonderen Einfluss. Während Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die Weltgeschichte als eine Abfolge immer höherer Stufen ansah, die jeweils eine neue, höhere hervorbringen, war für Karl Marx (1818–1883) der Klassenkampf der Arbeiter (Proletariat) gegen die Besitzenden (Bourgeoisie) der Motor für das Fortschreiten der Geschichte hin zu immer mehr Gerechtigkeit für immer mehr Menschen. Und Charles Darwin (1809–1882) lehrte die ständige Höherentwicklung des Lebens durch den Prozess der biologischen Anpassung, ein Modell, das bald von der Natur auf die Gesellschaft übertragen wurde. Man glaubte also an eine ständige Aufwärtsentwicklung. So breitete sich in den westlichen Gesellschaften im 19. Jahrhundert ein großer Zukunftsoptimismus aus. Die Menschen waren überzeugt, dass die Zukunft besser sein würde als die Vergangenheit und dass die Kinder ein besseres Leben führen könnten als ihre Eltern.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das säkulare Fortschrittsdenken jedoch immer mehr unter Druck geraten. Das liegt u.a. daran, dass zwei Grundprämissen dafür an Glaubwürdigkeit verloren haben: die Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Zivilisation und der Glaube an den Verstand und die Wissenschaft, die angeblich allein aus dem Verstand entspringen kann.

Vor allem die zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise erschütterten im 20. Jahrhundert die Illusion, die Überlegenheit des Westens und der Fortschritt des menschlichen Verstandes würden zur Weiterentwicklung des Menschen beitragen. Viele Aufklärungsphilosophen hatten noch die Hoffnung, dass Verstand und Wissenschaft Krieg und Ausbeutung verhindern könnten. Doch allmählich wurde klar, dass das, was im Wesen des Menschen Gewalt und Unterdrückung hervorbrachte, sich durch Vernunft und Wissenschaft offensichtlich nicht beseitigen ließ. Und mancher brauchte zwei Weltkriege, um den Glauben an die säkulare Fortschrittsidee zu verlieren.

So kam es Mitte des letzten Jahrhunderts zu einer wachsenden Skepsis in Bezug auf die Idee des Fortschritts. In den 1960er Jahren entstand eine neue Denkrichtung, der sogenannte „Poststrukturalismus“ oder „Postmodernismus“. Einer der Hauptvertreter, Jean-François Lyotard (1924–1998), argumentierte, dass unser Zeitalter keine „Metanarrative“, also keine großen Erzählungen mehr akzeptieren könne. Er meinte damit große Erzählungen, die nicht nur beanspruchen, alles zu erklären, was geschieht, sondern auch Antworten auf alle unsere Probleme zu liefern. Für ihn war das klassische Metanarrativ der westlichen Kultur die Emanzipation durch die Wissenschaft, die sowohl eine progressive, „linke“ Form annehmen kann, die zum Sozialismus führt, als auch eine konservative, „rechte“, die zum Faschismus führt. Welche Gestalt das Narrativ auch immer annehme – das 20. Jahrhundert habe es Lügen gestraft.

Für Lyotard war jeglicher Fortschrittsglaube auch eine Methode zum Machterhalt der Herrschenden. Jedes Mal, wenn der Staat es übernehme, die Bürger in die Bahn des Fortschritts zu senden, finde man den Rückgriff auf die Erzählung von den Freiheiten wieder. Lyotard war klar, dass die Gräueltaten der „Linken“ wie der „Rechten“ (also der Sowjetunion und Hitlerdeutschlands) alle unter der Flagge des historischen Fortschritts geschehen waren. Auch andere Denker dieser Zeit wie z.B. Michel Foucault (1926–1984) vollzogen den Bruch mit Hegel und Marx und mit der Fortschrittsidee.

Während die meisten Akademiker und Intellektuellen im Westen ihren Glauben an den historischen Fortschritt verloren, kam es auf der nichtakademischen Ebene zu einem gewissen Aufleben dieser Hoffnung, und das vor allem in zwei gesellschaftlichen Bereichen. Der erste Bereich war der der liberalen Politik. Im Lauf der letzten Jahrzehnte haben viele auf der linken Seite des politischen Spektrums sich von dem Begriff „liberal“ verabschiedet und beschreiben sich nun als „progressiv“. Vor allem die Demokraten in den USA fingen an, ihre Politik (bzw. ihre Ablehnung der Politik anderer Parteien) damit zu begründen, dass es eine unaufhaltsame Tendenz der Geschichte hin zu ihrer Version einer gerechten Gesellschaft gebe. Auch aktuelle Strömungen wie LGBTQ+, Wokeness usw. sehen sich als Verkörperung des Fortschritts.

So setzte sich schließlich im linken politischen Spektrum die Idee des Fortschritts hin zu einer freieren und gerechteren Gesellschaft wieder durch. Führende US-Demokraten bezeichneten politische Positionen, die ihnen missfielen, als „regressiv“ und die von ihnen favorisierten Denker als „ihrer Zeit voraus“. Solche Ausdrücke machen den Versuch deutlich, den säkularen, von Gott abgekoppelten Glauben wiederzubeleben, dass die Geschichte sich (mit Hilfe der richtigen Partei) hin zu mehr Freiheit, Aufklärung und Wohlstand bewegt.

Der zweite gesellschaftliche Bereich, in dem eine Wiederbelebung der säkularen Fortschrittsidee versucht wurde, ist die Welt der Technologie. Gemeint ist damit z.B. der Glaube, dass es die Technologie und die Technologen sind, die die Zukunft bauen. Man rüstet technisch auf und meint damit Defekte und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, im Schulsystem usw. beheben zu können. So werben Technologieunternehmen mit selbstbewussten Behauptungen, die Welt zu verändern, und Statements, Veränderungen als alternativlos zu erklären, weil sie unvermeidlich Teil des Fortschritts seien. Dabei wird aber immer deutlicher, dass manche Gegenwartsprobleme Folgen des technologischen Fortschritts sind. Und dass einige davon irreversibel sind, zeigt sich manchmal erst längere Zeit später. Der gläserne Mensch oder der Überwachungsstaat sind nur wenige von vielen Beispielen. So macht sich heute allgemein eine eher pessimistische Stimmung breit.

Das Fortschrittsdenken weist mindestens zwei zentrale Fehler auf. Etliche Fortschrittsdenker gingen davon aus, dass mehr Wissen ein besseres Leben bedeuten würde. Aber dies setzt voraus, dass die Menschen ihr Wissen auf die richtige Weise, also nicht egoistisch, sondern zum Wohl aller einsetzen. Voraussetzung dafür wiederum ist die Idee, dass der Mensch im Kern gut sei.

Die Gräueltaten an den Juden und in den Konzentrationslagern nahmen vielen die Illusion einer Verbesserung der Menschheit. Eine andere Variante, damit umzugehen, ist der Marxismus, der postuliert, dass wir Produkte gesellschaftlicher Kräfte und Strukturen seien und dass Menschen, die Verbrechen begehen, dies nur deswegen tun, weil Ungerechtigkeiten im System sie dazu zwingen. Marx war davon überzeugt, dass Verbrechen und Armut aufhören würden, sobald alle Menschen gleichermaßen über die Produktionsmittel verfügen. So aber z.B. die Gräuel von Auschwitz erklären zu wollen, würde bedeuten, dass man die Kategorie für das menschliche Böse verliert. Behaupten wir, dass die Täter von Auschwitz als Menschen moralisch unter uns stehen, beginnen wir einen Prozess der Dehumanisierung, dessen Ende offen ist. Die einzige realistische Antwort lautet: Auschwitz war möglich, weil mit dem Herzen des Menschen etwas grundlegend nicht stimmt. Tief in uns ist etwas, das zutiefst falsch und krank ist (vgl. Jeremia 17,9). Wir haben eine Neigung zum Egoismus und sind zu den größten Grausamkeiten fähig. Das Böse, das wir in der Gesellschaft sehen, ist nur die Folge des Bösen, das bereits in unserer Natur liegt. Wenn wir eine Gesellschaft aufbauen, bringen wir von der ersten Stunde an unsere Verderbtheit mit in sie hinein. Menschliche Grausamkeit ist also nicht, wie Karl Marx und Sigmund Freud (1856–1939) meinten, nur eine psychologische und soziologische „Verhaltensstörung“ und auch nicht nur „nichtangepasstes Verhalten“ oder „aggressive Instinkte“, sondern „böse“ und „sündig“. So formulierte C. E. M. Joad (1891–1953), ehemaliger Sozialist und atheistischer Philosophieprofessor, die Wissenschaft verbessere die Menschen nicht, sondern steigere lediglich ihre Fähigkeit zu bekommen, was sie wollten: „Die Wissenschaft … ist kein Zweck, sondern nur ein Mittel – ein Mittel zur Erfüllung der Begierden des Menschen.“ Und: „Weil wir die Lehre von der Erbsünde nicht wissen wollten, sind wir Linken immer wieder grausam enttäuscht worden – enttäuscht durch die Weigerung der Menschen, vernünftig zu sein … durch das Ausbleiben des wahren Sozialismus, durch das Verhalten der Nationen und Politiker … Vor allem aber durch die immer neue Tatsache des Krieges.“

Der säkulare Fortschrittsglaube ging also davon aus, dass die Hindernisse, die die Entwicklung der Menschheit blockierten, außerhalb von uns lagen und dass wir nur genügend technisches Wissen, Bildung und Sozialpolitik brauchten, um die Natur zu beherrschen und z.B. Krieg, Armut, Rassismus und Krisen zu überwinden. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass vermehrtes Wissen auf furchtbare Weise dazu missbraucht werden kann, unsere Situation zu verschlimmern, weil das größte Fortschrittshindernis in uns selbst liegt.

Die säkulare Zukunftshoffnung ist immer etwas Vorübergehendes – der Endpunkt der Menschheitsgeschichte ist hier das absolute Nichts. Im Gegensatz dazu steht die christliche Hoffnung einer unübertrefflichen Ewigkeit. Gott hat fest zugesagt, dass er die Geschichte nicht zu einem Ende, sondern zu einem Neuanfang führt, zu einer Welt, in der der Tod und das Böse vernichtet sind und Gerechtigkeit und Friede herrschen. Und die Basis dafür ist die Auferstehung. Seit sich die westliche Gesellschaft von dieser Hoffnung abgeschnitten hat, breiten sich in etlichen Bereichen Langeweile und Zynismus aus, was nicht verwunderlich ist.

Die säkulare Fortschrittsidee ist also naiv und unrealistisch. Es ist falsch, eine Gesellschaft auf die Annahme zu gründen, dass es mit jeder Generation mehr Wohlstand, Frieden und Gerechtigkeit geben werde. Und die postmoderne Alternative beraubt uns jeder Hoffnung. Allein der christliche Glaube bietet uns eine Sicht der Menschheitsgeschichte, die realistisch ist, ohne zynisch zu werden. Wenn nun jemand meint, auf der Grundlage der Fortschrittsidee das Christentum kritisieren zu können (nach dem Motto: „Heute kann man nicht mehr an die Wahrheit der Bibel glauben“), sollten wir uns bewusst machen, dass dieses Argument auf einer überholten Philosophie beruht und auch deshalb obsolet ist. Wir sollten uns bewusst machen, dass die Bibel zeitlose Wahrheiten verkündet und dass der Schlüssel zur Veränderung durch das Evangelium bei jedem Einzelnen liegt. Auf dieser Grundlage kann sich dann auch eine Gesellschaft verbessern, indem der Einzelne seinen entsprechenden Teil dazu beiträgt. Und Christen wissen auch um die Dynamik des Bösen vor der Wiederkunft Jesu und um eine ewige Herrlichkeit für Glaubende in der Zukunft.

Literatur

Martin Erdmann: Siegeszug des Fortschrittsglaubens. Progressivismus als Ausdruck der amerikanischen Zivilreligion. Band 4. Worthington, OH (Verax Vox Media) 2020.

Timothy Keller: Hoffnung in Zeiten der Angst. Wie die Auferstehung die Welt verändert. Gießen (Brunnen) 2022.

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