denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Un-Friedens-reich

Seit der Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden sind paradiesische Bedingungen seine Hoffnung gewesen. Oder zurückkehren zu können zu einem Reich des Friedens. Leider leben wir aber seitdem mehr oder weniger in einem Reich des Unfriedens, das reich an Unfrieden ist.

In der Geschichte hat es schon immer Eroberer gegeben, die andere Reiche mit Macht und brutaler Gewalt niederrangen. Das ist also nichts Neues. Denken wir nur an die Grausamkeit der Assyrer oder der Babylonier. Es gab aber auch immer wieder Machthaber, die ihr Handeln damit legitimierten, dass sie für ihr Tun höhere Gründe anführten, z.B. den Völkern Frieden und Wohlstand zu bringen. Und tatsächlich hatten Eroberungen für die besiegten Länder nicht immer nur Nachteile; manchmal ging damit wirklich ein besseres und zivilisierteres Leben einher.

In der Neuzeit gibt es in der westlichen Sphäre u.a. die Tendenz (wie auch schon zum Teil in der Antike), dass (politische) Theorien den Menschen eine großartige Zukunft versprechen, wenn man sie umsetzt. Dazu gehören etwa Theorien aus der Epoche der Aufklärung, die weitgehend den Verstand an die Stelle Gottes setzte, oder Teile des Evolutionismus, der – wie der Sozialismus – eine positive Zukunft verheißt. Dass diese Konzepte, auch wegen der Sünde des Menschen, nicht funktionieren und unter dem Sozialismus viele Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten, wird dabei oft verschwiegen.

Lange Zeit meinten viele im Westen, die Bedrohung durch den Totalitarismus[1] wie z.B. des Nationalsozialismus oder Kommunismus sei vorbei. Das Vorgehen Russlands in der Ukraine mag das geändert haben. Manche merken dabei aber weniger, wie sich in den westlichen Demokratien zunehmend ein „sanfter Totalitarismus“ etabliert (hat). Als „sanft“ wird er bezeichnet, weil er nicht wie im Kommunismus vorwiegend mit militärischer Härte durchgesetzt wird. Das Ziel ist, dass biblische Maßstäbe und von Gott gegebene Institutionen verdrängt werden sollen, z.B. indem man Menschen, die biblische Maßstäbe vertreten, (gesellschaftlich) ausgrenzt. Konsum, Bequemlichkeit und offiziell legitimierte Sünde sind u.a. Rahmenbedingungen dafür, dass z.B. die Ausgrenzung von Christen zunehmend gelingt, so z.B. besonders an Universitäten. Menschen, die aus ehemaligen kommunistischen Ländern wie etwa der Tschechoslowakei kommen, sehen heute Parallelen dazu, wie sich der Kommunismus in ihren Ländern ausbreitete. So warnen mittlerweile auch säkulare Gesellschaftsbeobachter davor, dass wir in den westlichen liberalen Demokratien tatsächlich eine Wende zum Totalitarismus erleben und dies nicht erkennen, weil er in einer anderen Form daherkommt als sonst. Gewiss haben Demokratie und Grundgesetz manche positiven Folgen für die Menschen in Deutschland. Zu oft aber muss beides auch als Legitimationshintergrund für stark ideologiebedingte Handlungen des sanften Totalitarismus herhalten.

Ein Problem ist, dass die vorherrschende Weltanschauung „Gerechtigkeit“ primär in Bezug auf Gruppen in Betracht zieht: ethisch, sexuell oder sonst wie. Und das unter dem Maßstab linker Ideologie, z.B. unter dem Deckmantel von „Diversität“, „Inklusion“ und „Gleichstellung“. So erzeugen linke Meinungsführer Kontrollmechanismen über die Art des Denkens und des Diskurses. Andersdenkende werden als „böse“ ausgegrenzt. Diejenigen, die die Freiheit einschränken, tun dies in einer Sprache, die vorgibt, die Opfer von Unterdrückung zu befreien. Ein Professor im Mittleren Westen der USA bemerkt dazu: „Ich bin in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen und bin offen gestanden erstaunt, wie sehr einige dieser Entwicklungen jenen ähneln, nach denen die sowjetische Propaganda vorging.“

Die Entwicklung wird von christlicher Seite z.B. als „weltweite Diktatur scheinbar humanistischer Ideologien“ bezeichnet und so begründet: Der alte, strenge Totalitarismus hatte eine Vision für die Welt, die die Auslöschung des Christentums erforderte. Der neue, sanfte Totalitarismus verhält sich genauso, und wir sind kaum gerüstet, diesem heimtückischen Angriff zu widerstehen. Ein Problem dabei ist, dass diejenigen, die in dieser Atmosphäre aufwachsen, oft kein Verständnis mehr dafür haben, welche Bedeutung etwa die traditionelle Familie hat, dass die Geschlechterrollen nicht beliebig sind, dass das menschliche Leben unantastbar ist und warum man christliche Positionen, die von den Idealen des Mainstreams abweichen, tolerieren sollte. Der sowjetische Regimekritiker Alexander Solschenizyn meinte, dass die Hauptursache für die Krise, die den Kommunismus hervorgebracht und aufrechterhalten habe, nicht politisch, sondern spirituell gewesen sei, und so ist es aktuell auch in Bezug auf die neueren Entwicklungen. Ferner schrieb er, die Basis des Totalitarismus sei eine Ideologie, die aus Lügen bestehe. Die Existenz des Systems hänge von der Angst der Menschen ab, diese Lügen infrage zu stellen. Unser Weg müsse deshalb sein: niemals wissentlich Lügen zu unterstützen. Die liberale Demokratie ist also trotz ihrer oberflächlichen Freizügigkeit zu etwas degeneriert, das in einigen Bereichen dem Totalitarismus ähnelt. Das sehen wir z.B. an der Diskussion über Abtreibung.

Manche tun den aktuellen (totalitaristischen) Zeitgeist als wenig bedeutsam ab. Seit aber immer mehr klar wird, dass Menschen, die sich diesem Geist widersetzen, ihre Karriere, ihren Ruf und ihren Platz im öffentlichen Leben verlieren und als rassistisch, sexistisch, homophob und dergleichen beschimpft werden können, wird deutlich, dass er nicht so harmlos ist, wie es scheint. Und die scheinbare Fürsorge des Liberalismus für die Schwachen und Ausgegrenzten schlägt schnell in eine Ideologie um, die dem sanften Totalitarismus Vorschub leistet.

Philip Rieff legt in seinem Buch The Triumph of the Therapeutic dar, dass der „Tod Gottes“ im Westen eine Zivilisation hervorgebracht habe, die sich auf die Befreiung des Individuums konzentriert habe, das seine eigenen Vergnügungen suche und aufkommende Ängste damit bewältige. An die Stelle des religiösen Menschen, der sein Leben nach seinem Glauben und nach den transzendenten Prinzipien ausgerichtet habe, die das menschliche Leben innerhalb des Gemeinwohls regelten, sei der psychologische Mensch getreten, der glaube, dass es keine transzendente Ordnung gebe und dass der Sinn des Lebens darin bestehe, auf experimentelle Art seinen eigenen Weg zu finden. Er verstehe sich als Tourist, der nach seinem eigenen, selbst entworfenen Reiseplan mit dem ultimativen Ziel seines persönlichen Glücks unterwegs sei. Die Menschen wollten also eine Zivilisation schaffen, die auf der Verneinung jeglicher bindenden transzendenten Ordnung fuße. „Ihr werdet sein wie Gott“ sei somit das Grundprinzip der neuen Kultur. In dieser ist es ein großes Vergehen, die Freiheit derjenigen zu behindern, die ihr Glück nur nach eigenem Gutdünken suchen.

Ein Grund dafür, dass Menschen nachweisbare Lügen zu bereitwillig glauben, ist also die Verzweiflung, mit der von sich selbst entfremdete Menschen nach einer Geschichte suchen, die ihnen hilft, ihrem Leben einen Sinn zu geben, und die ihnen sagt, was sie tun sollen.

Über die Machthaber schreibt die Totalitarismusforscherin Hannah Arendt: „Einmal an der Macht, ersetzt der Totalitarismus unweigerlich alle erstklassigen Talente, ungeachtet ihrer Sympathien, durch Spinner und Dummköpfe.“ Loyalität überrage dabei alles.

Schon immer in der Geschichte können wir sehen, wie sich der Unfriede Bahn bricht, wenn die Maßstäbe Gottes nicht beachtet werden. Und die aktuellen Entwicklungen verheißen nichts Gutes. Doch schon immer gab es Grundsätze, dem zu begegnen: Treue dem Wort Gottes gegenüber, Gebet, Loyalität Gott gegenüber, Bekennermut, Widerstand gegen widerbiblische Grundsätze in dem Rahmen, wo es angebracht ist usw. Lasst uns also wieder neu uns gegenseitig motivieren, mit dem reichen Frieden Gottes anderen, die „unfriedensreich“ sind, zu begegnen. Klar, verbindlich und konsequent. Zur Ehre Gottes und zum Segen der Menschen.[2]

Jochen Klein

[1] Totalitarismus bezeichnet ein Konzept politischer Herrschaft mit einem uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten, auch über die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre hinaus in den persönlichen Bereich.

[2] Die Hintergründe basieren teilweise auf dem Buch von Rod Dreher: Lebt nicht mit der Lüge, Illertissen 2023.

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