denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Vom Deuten

Jeder muß täglich Deutungen vornehmen: Man deutet einen finsteren Gruß als schlech­te Laune, ein Kopfschütteln als Ablehnung oder ein ungewöhnliches Verhalten als be­absichtigte Provokation. Wenn ein gewisses Maß an Deuten für das tägliche Leben un­umgänglich ist, so ist spekulatives Deuten oft Ursache für Mißverständnisse, Verleum­dungen oder Selbstbetrug.[1]

Von Satan wird im Buch Hiob berichtet, daß er Gott auffordert: „Strecke einmal deine Hand aus und taste alles an, was er [Hiob] hat, ob er sich nicht offen von dir lossagen wird“ (Hiob 1,11). Nachdem Hiob trotz des Verlustes seines Besitzes und seiner Kinder sagte: „Der HERR hat gegeben, der HERR hat genom­men, der Name des HERRN sei gepriesen“ (1,21), forderte der Teufel Gott erneut auf: „Aber strecke einmal deine Hand aus und taste sein Gebein und sein Fleisch an, ob er sich nicht offen von dir lossagen wird“ (2,5).

Daß Hiob trotz der schweren Krankheit, mit der er geschlagen wurde, an Gott festhielt – damit hatte der Teufel nicht gerechnet. Sei­ne Einschätzung von Hiobs Verhalten im vorhinein war also fehlgeschlagen.

Als die drei Freunde Hiobs kamen und nach längerem Schweigen lange mit ihm stritten, was die Ursache für sein Leid sei, entstan­den viele Fehldeutungen, Unterstellungen und Konfrontationen. Was die Freunde nicht wußten: Gott hatte dem Teufel erlaubt, Hiob zu versuchen. Was sie nicht vermute­ten: Gott und der Teufel sahen zu.

Nach der Unterredung mit den drei Freun­den sowie mit Eliphas, einem jüngeren Mann, der später hinzugekommen war, re­dete der HERR. Auf dessen Frage: „Will der Tadler rechten mit dem Allmächtigen? Der da Gott zurechtweist, antworte darauf“ (39,32), gestand Hiob ein: „Siehe, zu gering bin ich, was soll ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, und ich will nicht mehr antwor­ten, und zweimal, und ich will es nicht mehr tun“ (V. 34.35).

Darauf sprach Gott er­neut zu ihm. Dann hatte Hiob erkannt: „Ich weiß, daß du alles vermagst und kein Vorhaben dir verwehrt werden kann. Wer ist es, der den Rat verhüllt ohne Erkenntnis? So habe ich denn beurteilt, was ich nicht verstand, Dinge, zu wunderbar für mich, die ich nicht kannte. Höre doch, und ich will reden; ich will dich fragen, und du belehre mich!“ (42,2-5).

Sollten wir bei allem Deuten und dem dar­aus resultierenden Beurteilen nicht versu­chen, die Erkenntnis Hiobs umzusetzen?

Jochen Klein

[1] Vgl. 1. Sam 1,12-16: Eli hatte Hanna beim leisen Beten beobachtet, schloß, sie sei betrunken, und stellte sie deshalb zur Rede.

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