Wenn wir Warum-Fragen stellen, möchten wir den Grund für etwas erfahren. Dies passiert in unserem Leben sehr oft, denn mit vielem können wir besser klarkommen oder umgehen, wenn wir die Gründe dafür wissen. Wir können geradezu behaupten, dass das Wissen um die Gründe zu unserem Menschsein dazugehört – aber auch das Lernen, letzte Gründe oft nicht kennen oder verstehen zu können.
Allerdings stellen wir uns die Frage nach dem Warum eher selten, wenn es in unserem Leben unserer Meinung nach gut läuft. Sie drängt sich vielmehr vor allem dann auf, wenn etwas nicht funktioniert. So gibt es auch etliche christliche Veröffentlichungen, die diese Frage im Titel führen, z.B. solche zum Thema „Leid“. Auch manche Bibelstellen, in denen das Wort „Warum“ vorkommt, stehen im Zusammenhang mit der Frage nach Gründen für Unglück und Leid.
Doch das Wort wird auch in anderen Zusammenhängen verwendet. Da gab es z.B. eine Frau namens Ruth, die aus Moab stammte (den Feinden des Volkes Gottes). Ihr israelitischer Mann, dessen Vater und Bruder waren von Israel nach Moab geflohen, weil in Israel eine Hungersnot ausgebrochen war. Sie waren dort gestorben, und nun war Ruth mit ihrer Schwiegermutter Noomi nach Israel gekommen. Ein vermögender Verwandter (Boas) erlaubte ihr, auf seinem Feld Ähren aufzulesen, war um ihr Wohl besorgt und kümmerte sich um sie. In diesem Zusammenhang stellte sie dann eine Warum-Frage: „Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest, da ich doch eine Ausländerin bin?“ (Ruth 2,10).
Ein ähnlicher Tenor ist bei einem Mann namens Mephiboseth zu finden. Er war ein Enkel Sauls (ein Sohn Jonathans) und nach den damaligen Gepflogenheiten der Völker nach Davids Machtübernahme dem Tod geweiht. David hatte aber eine merkwürdige Suche initiiert. Er fragte: „Ist niemand mehr da vom Haus Sauls, dass ich Güte Gottes an ihm erweise?“ (2. Sam 9,3). Neben dem Knecht Ziba fand sich Mephiboseth. David sagte zu ihm: „Fürchte dich nicht; denn ich will Güte an dir erweisen um deines Vaters Jonathan willen und will dir alle Felder deines Vaters Saul zurückgeben; du aber sollst beständig an meinem Tisch essen“ (9,7). Mephiboseths Antwort hätte nun wie die Ruths lauten können: „Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest?“ Konkret fiel sie so aus: Er beugte sich nieder und sagte: „Was ist dein Knecht, dass du dich zu einem toten Hund gewandt hast, wie ich einer bin?“ David gab ihm dann Sauls Eigentum zurück, und er sollte beständig an seinem Tisch essen.
Nachdem David später mit seinen Leuten wegen Absaloms Revolution Jerusalem verlassen hatte, Absalom besiegt und David wieder auf dem Rückweg nach Jerusalem war, kam ihm auch Mephiboseth entgegen. David wunderte sich, dass er nicht mit ihm gezogen war, und es stellte sich heraus, dass Ziba Mephiboseth beim König verleumdet und ihm die Möglichkeit genommen hatte, mitzuziehen (er war nämlich lahm). Darauf entschied David, dass er und Ziba sich ihre Felder teilen sollten. Mephiboseths Reaktion war so: „Da sprach Mephiboseth zum König: ‚Er mag auch das Ganze nehmen, nachdem mein Herr, der König, in Frieden in sein Haus gekommen ist‘“ (19,31).
Wir können also festhalten, dass Ruth sich ihres erbarmungswürdigen Zustandes bewusst war und sich so über die ihr entgegengebrachte Gnade wunderte. Ähnlich auch Mephiboseth. Beiden war unverdiente Gnade von jemand zuteilgeworden, der ebenfalls Gnade – nämlich von Gott – empfangen hatte und reichlich davon Gebrauch machte, sie an andere weiterzugeben.
Ein gegenläufiges Beispiel steht in Matthäus 18,21ff. Dort finden wir einen Knecht, der seinem König eine riesige Summe schuldete, die er nicht bezahlen konnte. So wurde ihm befohlen, seine Frau, seine Kinder und seinen Besitz zu verkaufen, um bezahlen zu können. Er flehte seinen Herrn um Gnade an, dieser ließ ihn frei und erließ ihm das Darlehen. Kurze Zeit später fand der Knecht jemand, der ihm im Vergleich zu dem Erlassenen eine geringe Summe schuldete. Diesen würgte er, wies seine Bitte um Zahlungsaufschub zurück und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe. Der Herr sagte darauf zu ihm: „Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, da du mich ja batest; hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen sollen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Peinigern, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt habe“ (V. 32–34).
Hier hat also jemand viel Gnade empfangen, ist aber nicht bereit, diese anderen gegenüber auszuüben. Die negativen Konsequenzen dafür muss er tragen.
Als positives Beispiel für uns können somit Boas und David dienen (Boas war übrigens ein Vorfahre Davids), die viel Gnade empfangen hatten und sie an andere weitergaben. Von Ruth und Mephiboseth können wir Dankbarkeit lernen, und der Knecht sollte uns als warnendes Beispiel dienen. – Und vielleicht können wir uns in Zukunft öfter in Bezug auf die Gnade Gottes fragen: „Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest?“
Auch von Paulus können wir in dieser Hinsicht viel lernen. Er schreibt: „Denn ich bin der geringste der Apostel, der ich nicht wert bin, ein Apostel genannt zu werden, weil ich die Versammlung Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war“ (1. Kor 15,9.10). „Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht. Daher will ich mich am allerliebsten viel mehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten für Christus; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2. Kor 12,9.10).
Jochen Klein
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