denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Wo ist Heimat?

Er hieß Sunenberg, stammte aus Luzern, war Fähnrich und verließ seine Heimatstadt, um in der Fremde Söldner zu sein. Einige Zeit später kam folgende Nachricht: „Der Sunenberg gestorben von Heimweh“. Das war 1569. In diesem Brief ist der Ausdruck „Heimweh“ erstmals überliefert.

Bald darauf wurde dieses Wort zum Inbegriff eines rätselhaften Leidens, das an Schweizer Rekruten beobachtet wurde, die in Frankreich oder in den Niederlanden Dienst taten. Französische Offiziere ließen das Spielen und Singen bestimmter Schweizer Lieder sogar angeblich bei Todesstrafe verbieten, um Aufruhr und Desertion zu vermeiden.

Für Sesshafte war Heimat lange Zeit nicht nur ein Ort, sondern auch etwas, das man mit der heutigen Staatsangehörigkeit vergleichen kann. Nur wer in einer Gemeinde Heimatrecht besaß, durfte sich dort niederlassen und hatte Anspruch darauf, bei Armut, Krankheit oder im Alter versorgt zu werden.

In unserer Zeit hat sich der Heimatbegriff vollständig gewandelt. Johanna Romberg meint: „Für die Menschen des 21. Jahrhunderts ist das Unstete zum Idealbild gewor­den, sind Fremde und Heimat auf seltsame Weise durcheinander geraten. Wir leben in einer Welt, in der Aufbrechen, Fortkommen und Ankommen so leicht ist wie nie zuvor und in der Ortsgebundenheit schon fast als Zeichen von Rückständigkeit gilt ... Wozu aber brauchen wir Heimat so dringend? Wir wissen ja nicht einmal, wo genau sie liegt“ (Geo 10/2005, S. 109f.). Nora Iuga, eine rumänische Dichterin, sagt: „Mir fallen bei ‚Heimat‘ immer die ersten Astronauten ein. Als sie die Erde sahen, da dachten sie sicher: Das ist meine Heimat! Und das denke ich auch: Meine Heimat, der Blaue Planet.“ Und die bulgarische Schriftstellerin Diana Ivanova meint: „In der Welt der Dynamik hat die Heimat die Rolle des Ankers übernom­men“.

Friedrich Nietzsche (1844–1900) entstammte einer protestantischen Pfarrerfamilie. Er beschäftigte sich früh intensiv mit unterschiedlichen Philosophien. Später führte er den Begriff des Nihilismus in die deutsche Philosophie und Literatur ein. Dieser Begriff bedeutet ein Bewusst­sein der Leere und Sinnlosigkeit von Welt und Leben, das Gefühl der totalen Ohnmacht des Menschen und sein Ausgeliefertsein an ein übermächtiges, oft auch anonymes Schicksal. 1884 schrieb Nietzsche das Gedicht Vereinsamt, in dem diese Stimmung deutlich wird:

 

Vereinsamt

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein. –

Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!

Nun stehst du starr,

Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!

Was bist du Narr

Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor

Zu tausend Wüsten stumm und kalt!

Wer das verlor,

Was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich,

Zur Winter-Wanderschaft verflucht,

Dem Rauche gleich,

Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr

Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –

Versteck, du Narr,

Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein. –

Weh dem, der keine Heimat hat!

 

Während der Jahrhunderte verloren immer wieder Menschen ihre Heimat, weil sie z.B. wegen Kriegen von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung betroffen waren. Aber auch unabhängig davon gibt es immer wieder Einzelschicksale von Menschen, die mit dem Verlust der Heimat leben müssen oder die nie eine hatten. Von Vereinsamung kann man aber nicht in allen Fällen reden.

Die erste Heimat, die Menschen hatten, war der Garten Eden (Wonne, Lieblichkeit). Um eine für die Menschen ideale Sphäre zu schaffen, pflanzte Gott einen Garten und ließ viele unterschiedliche Bäume wachsen, die schön anzusehen und essbar waren. Der Baum des Lebens stand in der Mitte und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen irgendwo. Von Eden ging ein Strom aus. Der Mensch sollte den Garten bebauen und bewahren. Gott schuf die Frau, außerdem Tiere, die der Mensch benennen sollte. Hier wird einiges deutlich, was gute Bedingungen für das Leben eines Menschen sind: Nahrung, Schönheit, ein göttlicher Mittelpunkt (Baum des Lebens als Symbol für den Herrn Jesus), die Notwendigkeit eines moralischen Unterscheidungsvermögens (Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen), Gemeinschaft, sinnvolle Tätigkeit und kreatives Tun (Namen geben) (vgl. 2. Mose 2,8ff.).

Dann brach die Katastrophe aus. Die erste Vertreibung aus der Heimat fand im Garten Eden statt. Wegen ihrer Sünde mussten Adam und Eva das Paradies verlassen. Seit dieser Zeit ist jeder Mensch in gewisser Weise heimatlos (1. Mose 3,23.24).

Eine frühe Umsiedlung, von der in der Bibel berichtet wird, ist die Abrahams. Er kam aus Ur in Chaldäa. In dieser extrem gottlosen Gegend waren auch Ninive und Babel beheimatet. Abraham sollte sein Land, seine Verwandtschaft und das Haus seines Vaters verlassen, um letztlich nach Kanaan zu kommen – in das Land, das Gott ihm gezeigt und seinen Nachkommen bestimmt hatte. Dies wird in Hebräer 11,8–10 folgendermaßen kommentiert: „Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen sollte; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme. Durch Glauben hielt er sich in dem Land der Verheißung auf wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung; denn er erwartete die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“

Hier wird klar, dass Abraham sein eigentliches Ziel nicht erreichte, sondern dass er ein Fremder war und sein letztes Ziel die ewige Heimat blieb. So stand er durch den Glauben in der Tradition seiner Vorväter, von denen es dann heißt: „Diese alle sind im Glauben gestorben und haben die Verheißungen nicht empfangen, sondern sahen sie von fern und begrüßten sie und bekannten, dass sie Fremde und ohne Bürgerrecht auf der Erde seien. Denn die, die solches sagen, zeigen deutlich, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie an jenes gedacht hätten, von dem sie ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt, zurückzukehren. Jetzt aber trachten sie nach einem besseren, das ist himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden, denn er hat ihnen eine Stadt bereitet“ (Hebräer 11,13–16).

Ein Urenkel Abrahams, Josef, wurde etliche Zeit später gezwungen, das Land seiner Geburt zu verlassen und in die Fremde, nämlich nach Ägypten zu ziehen. Er blieb Gott treu und wurde durch seinen Aufenthalt dort zum großen Segen für seine Nachkommen und für die Ägypter. Er kam nie mehr (lebend) zurück, sondern starb in der Fremde. Ähnlich ging es Daniel, der mit einem Teil der Juden wegen ihres Ungehorsams Gott gegenüber nach Babylon weggeführt wurde. Sie litten in der Ferne sehr (vgl. z.B. Ps 137). Daniel hatte aber ein Rezept gegen Einsamkeit und Not: Dreimal am Tag kniete er nieder, betete und lobpries vor seinem Gott (vgl. Dan 6,11). So blieb er in Kontakt mit seiner eigentlichen Heimat und in der Fremde Gott treu, obwohl ihn dies manchmal fast das Leben gekostet hätte.

Im Neuen Testament äußert sich der Herr Jesus gegenüber seinen Jüngern in Bezug auf die Heimat der Gläubigen: „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh 14,2.3). Hier finden wir die Heimat als Ort. Der zentrale Punkt, der wichtig ist, damit wir auf der Erde seelisch bereits eine Heimat haben und auch die Atmosphäre der Heimat spüren können, ist aber Vers 6: „Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich.“ Es ist unsere Beziehung zu Gott.

Das Thema wird im 2. Korintherbrief ergänzt: „Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln … So sind wir nun allezeit guten Mutes und wissen, dass wir, während wir einheimisch in dem Leib sind, von dem Herrn ausheimisch sind (denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen); wir sind aber guten Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein. Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, ihm wohlgefällig zu sein“ (5,1.6–9). Das hier gemeinte Haus ist zunächst unser Körper, dann aber auch unsere ewige Wohnung im Haus des Vaters. Diese Sicherheit und Perspektive bringt jedoch auch Verantwortung mit sich. Das macht der nächste Vers deutlich: „Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (V. 10).

Wenn es lange Zeit so war, dass sich nur derjenige in einer Gemeinde niederlassen durfte, der dort Heimatrecht besaß, dann gilt das auch für den Himmel. Dort haben Christen ihr Bür­gerrecht (vgl. Eph 1,3), da dort bei Christus ihre eigentliche Heimat ist (vgl. Phil 3,20). Hier sind sie schon jetzt „gesegnet mit jeder geistlichen Segnung“ (Eph 1,3); von dieser Perspektive sollte ihr Sinnen auf der Erde und die Treue im Leben Gott gegenüber geprägt sein, und dorthin sollten wir uns sehnen, also Heimweh haben.

Als der Arzt, Ökonom und Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling 76 Jahre alt war (1816), schwanden seine Kräfte immer mehr. Er schrieb: „Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele vorüber und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleyer bedeckt ist, den ich erst lüften werde, wenn meine Hülle im Grabe ruht, und der Auferstehung entgegen reift.“ – „Nie werde ich auch vergessen“, so der Schwiegersohn über Jung-Stilling und seine Frau, „wie sich beide über diesen gemeinsamen Übergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiterkeit, womit sie darüber sprachen, wie sie wohl sonst von einer vorgenommenen Reise redeten ... die lieben Eltern freuten sich auf diese Reise.“ Am 22. März 1817 trat Ehefrau Elise die „Reise“ an. Elf Tage später folgte Jung-Stilling in Gegenwart seiner versammelten Familie. Das, was er in einem seiner Bücher geschrieben hatte, war Wahrheit geworden: „Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“

                                                                                                                                  Jochen Klein

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