Wenn man die folgenden Sätze ohne Kenntnis des Zusammenhangs liest, klingen sie sehr heftig: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten; sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten ‚Geistbegabten‘ als besessen erwiesen“.
Diese Aussagen wurden vor 100 Jahren von Vertretern der deutschen Gemeinschaftsbewegung und der Evangelischen Allianz in der „Berliner Erklärung“ formuliert. Es kam dazu, weil das Gedankengut und die Praktiken der damals erst kürzlich entstandenen Pfingstbewegung immer mehr in die Gemeinden eindrangen. Immer deutlicher traten negative Auswirkungen hervor, und so sahen sich diese Brüder zu der Erklärung veranlasst, in der auch obige Sätze zu lesen sind. Sie sind die bekanntesten und am häufigsten zitierten. Die erwähnten Brüder vollzogen dadurch sozusagen den letzten Schritt zur Trennung von der aufkommenden Bewegung.
Schon immer gab es in der Christenheit auf das Gefühl und die persönliche Erfahrung ausgerichtete Bewegungen. Manchmal entwickelten sie sich als Gegenbewegung zu einer auf die Lehre fixierten Orthodoxie, die den Lebensstil in einer freudlosen und äußerlichen Gesetzlichkeit erstarren ließ. Deshalb suchten Menschen nach einer Nachfolge ohne gesetzlichen Kampf. Oft war ein Grund für das Hinwenden zu diesen Bewegungen auch das Sehnen nach seelischen und körperlichen Zeichen als „Beweis“ für die Richtigkeit des Glaubens oder das Streben nach Sonderoffenbarungen durch Visionen, Gefühle oder übernatürliche Einwirkungen.
Heute hat sich die Grundaussage der Ökumenischen Bewegung, „Lehre trennt – Dienst eint“, auch im evangelikalen Bereich durchgesetzt, und Pfingst- bzw. Charismatische Bewegung haben weltweit großen Einfluss gewonnen. (Im Gegensatz zur Pfingstbewegung versucht die Charismatische Bewegung nicht unbedingt neue Gemeinden zu gründen; ihr Ziel ist es, vorhandene mit ihrem Geist zu durchdringen.) So sind charismatische und pfingstlerische Elemente längst in viele evangelikale Gemeinden Deutschlands eingezogen. Dieser Tatsache trugen auch die Leitungsgremien verschiedener Organisationen Rechnung: Seit den 1980er Jahren bekam die Pfingstbewegung die Anerkennung, die sie lange angestrebt hatte. So wurde die Berliner Erklärung 1996 von der Deutschen Evangelischen Allianz und 2009 vom Gnadauer Verband – also von den Vereinigungen, die sie ursprünglich verabschiedet hatten – in ihrer Bedeutung für heute relativiert.
Der Autor des vorliegenden Buches macht demgegenüber deutlich, dass die Inhalte der „Berliner Erklärung“ noch immer aktuell sind. Er möchte das Thema aus „theologischer, kirchengeschichtlicher und seelsorgerlicher Sicht“ angehen, und zwar „ohne Fanatismus oder ungeistliche Härte … Gleichzeitig müssen wir aber dem Wort Gottes treu bleiben und dürfen keine falschen Kompromisse schließen. Bei aller gebotenen Deutlichkeit soll diese Standortbestimmung keine Kampfschrift, sondern eine Information, Erinnerung und Handreichung sein“.
Zu diesem Zweck hat er den Text in elf Kapitel gegliedert. Im ersten beschäftigt er sich mit dem geistlichen Hintergrund der Christen in Deutschland bis zur Reformation. Im zweiten geht es um die Zeit des Pietismus bis zum Aufkommen der Pfingstbewegung. Die weiteren Themen sind die Krise der Erweckungsbewegung, Versuche, die Einheit der Gemeinschaftsbewegung aufrechtzuerhalten, die „Berliner Erklärung“ und die Entwicklungen danach bis in die Gegenwart. Außerdem sind wichtige zeitgenössische und aktuelle Dokumente abgedruckt.
Das Buch ist leicht verständlich und erfreulich unpolemisch geschrieben, gut recherchiert und mit ausführlichen Literaturhinweisen sowie einem ebensolchen Fußnotenapparat versehen. Die 178 Fußnoten bergen jedoch den Nachteil in sich, dass man sehr oft zwischen ihnen und dem Text hin- und herspringen muss. Auch das römische Zahlensystem bei den Hinweisen auf die Literatur ist nicht sehr benutzerfreundlich. Den Lesefluss stört zudem die Tatsache, dass die Kommas zum Teil nach dem Zufallsprinzip in den Text eingefügt zu sein scheinen.
Ein Vorteil der Publikation besteht darin, dass sie nicht wie manche anderen Bücher zu diesem Thema schwerpunktmäßig die englischsprachigen Länder behandelt, sondern eben die deutsche Entwicklung. Dabei ist auch zu begrüßen, dass der Autor die angesprochenen Phänomene in einen größeren Zusammenhang stellt, da Mystizimus u.Ä. ja eine sehr lange Tradition haben.
Zum Schluss schreibt der Verfasser (als Prediger des Gnadauer Verbandes): „Die Pfingst- bzw. Charismatische Bewegung können wir wie eine andere Konfession im klassischen Sinne betrachten … Zwischen ihnen und uns bestehen tiefe theologische Unterschiede. Eine Zusammenarbeit mit derartig andersartigen Kirchen und ihren Vertretern ist nur sehr beschränkt und auf geistlichem Gebiet eigentlich kaum möglich.“
Da mittlerweile Gedankengut und Praxis dieser Bewegung immer mehr Verbreitung finden, dürfte es gut sein, sich über ihre Hintergründe und Geschichte (anhand dieses Buches) zu informieren.
Jochen Klein
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