denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Der Siegeszug des modernen Selbst.

Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg der sexuellen Revolution.

„Die Ursprünge dieses Buches liegen in meiner Neugierde. Ich wollte wissen, wie es sein kann, dass folgende Aussage heute stimmig erscheint: ‚Ich bin eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist‘“. So beginnt Carl R. Trueman das Buch. Und er beendet es mit dem Wunsch, dass die darin angebotenen „Narrative und Analysen“ zu den Fragen der Gegenwart ein „hilfreiches Prologomenon“ (allgemeine Grundlage) liefern. Damit haben wir bereits einen Eindruck von der Lektüre, die zunächst 2020 auf Englisch erschienen ist. Sie ist in manchem konkret, praktisch verzahnt, liefert aber einen großen theoretischen Rahmen mit zum Teil anspruchsvollen Reflexionen.

Carl R. Trueman ist Professor für biblische und religionswissenschaftliche Studien am Grove City College in Pennsylvania (USA) und Autor zahlreicher Bücher. In seinem neuesten erklärt er die Entstehungsgeschichte der aktuellen Sicht des Selbst: „Meine Aufgabe sehe ich darin, die tiefen geschichtlichen Wurzeln der Vorstellung aufzuzeigen, die heute das bewusste und unbewusste intuitive Denken der Menschen im Westen prägen und eine Erklärung dafür liefern, warum die Gesellschaft so denkt und handelt, wie sie es tut … Ich will also in erster Linie den geistesgeschichtlichen Hintergrund der modernen Revolution des Selbst dokumentieren und deutlich machen, dass die Ideen von Schlüsselpersonen, die vor langer Zeit gelebt haben, unsere Kultur auf allen Ebenen durchdrungen haben. Das fängt auf den Fluren akademischer Institutionen an und geht bis hin zum allgemeinen Lebensgefühl der Menschen.“

Trueman zeichnet in diesem Buch die Entwicklung nach, die zum „modernen Selbst“ geführt hat. Das bedeutet auch, wie es Ron Kubsch im Vorwort ausdrückt: „Warum haben wir jenen metaphysischen Rückbezug verloren, der der menschlichen Identität und Moral über Jahrhunderte hinweg den nötigen Rückhalt gegeben hat, um Festigkeit und Bedeutung zu entwickeln?“ Trueman formuliert in einem Interview : „Das Selbst wird weitgehend mit inneren, psychologischen Gedanken und Gefühlen identifiziert. Nur so konnte die Trans-Ideologie so plausibel werden. Das Personsein wird mit dem Selbstbewusstsein gleichgesetzt. So setzt sich zunehmend durch, dass Babys im Mutterleib oder Menschen mit Demenz nicht länger als Personen angesehen werden und man ihnen deswegen auch Rechte abspricht.“

Rod Dreher akzentuiert die Thematik in seinem Vorwort folgendermaßen: „Weil die Menschen Gott vergessen haben, haben sie auch den Menschen vergessen; deswegen ist all dies geschehen.“ So sei dieses Buch ein unverzichtbarer Wegweiser für die Frage, wie und warum Menschen Gott vergessen haben. Es liefere dazu „eine anspruchsvolle kulturgeschichtliche Untersuchung und Analyse“, geschrieben von jemandem, der gläubiger Christ und Hirte sei. Trueman erkläre in diesem Buch der Kirche die Moderne. Das Problem sei nämlich: „Die heutige Welt hat einen Zustand erreicht, der in früheren Jahrhunderten den Ausruf hervorgebracht hätte: ‚Das ist die Apokalypse!‘ Doch wir haben uns an diese Art von Welt gewöhnt; wir fühlen uns sogar in ihr zu Hause“, wie es Alexander Solschenizyn treffend formuliert habe.

Im ersten Teil des Buches stellt der Autor in zwei Kapiteln grundlegende Konzepte vor, mit denen er anschließend arbeitet, um die geschichtliche Entwicklung zu analysieren. Zentral sind dabei die Ideen der Philosophen Philip Rieff, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre, die die Gegebenheiten der Moderne erforscht haben. Von Rieff sind die Begriffe „Triumph des Therapeutischen“, der „psychologische Mensch“, „Antikultur“ und „Todeswerk“ bedeutend. Taylor ist wichtig, um die moderne Vorstellung vom expressiven Selbst zu verstehen. Dies erhellt u.a. die Gründe dafür, warum bestimmte Identitäten (z.B. LGBTQ+) ein so großes Prestige haben, während andere (z.B. Konservative) zunehmend ausgegrenzt werden. MacIntyre schließlich zeigt, wie seit den frühen 1980er-Jahren der moderne ethische Diskurs zusammengebrochen ist: Das Ringen beruhe nämlich letztlich auf unvereinbaren Ansätzen und Ansprüchen auf moralische Wahrheit, was aber schlussendlich nur Ausdruck emotionaler Präferenzen sei.

Der zweite Teil des Buches befasst sich besonders mit Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, ausgehend vom Denken Jean-Jacques Rousseaus über die Romantik bis hin zu Ansätzen von Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin. Mit der Ära von Rousseau und der Romantik kam ein neues Verständnis des menschlichen Selbst auf, das sich auf das Innenleben des Einzelnen richtete. Daraus ging die Vorstellung hervor, dass Gesellschaft und Kultur den Menschen unterdrückten. Diese Entwicklung wurde verstärkt durch die Arbeiten von Nietzsche und Marx, die auf unterschiedliche Weise zu vermitteln versuchten, dass die Geschichte der Gesellschaft eine Geschichte von Macht und Unterdrückung sei. Dabei seien sogar Begriffe wie „die menschliche Natur“ Konstruktionen, die dazu dienten, die Unterwerfung zu stärken und aufrechtzuerhalten. Zusammen mit Darwin versuchten sie die Vorstellung zu beseitigen, dass der Mensch eine besondere Stellung oder ein besonderes Wesen habe, das sein Verhalten bestimme. Nach Trueman verlor die Welt durch diese drei Männer ihre Teleologie (Zweckbestimmung/Sinnhaftigkeit). Sie hätten ihr nämlich die metaphysischen (übernatürlichen) Grundlagen für menschliche Identität und Moral entzogen, sodass die Moral – nach Nietzsche – nur noch eine Geschmacks- oder Machtfrage sei. Weiterhin deutete Nietzsche Geschichte als eine Geschichte der Unterdrückung, deren Opfer die wahren Helden seien (die Parallelen zu heute sind augenfällig). Die Romantiker schließlich begründeten die Ethik in der Ästhetik, in der Kultivierung von Empathie und Mitgefühl.

Während es also im zweiten Teil des Buches um die Psychologisierung des Selbst geht, befasst sich der dritte Teil mit der Sexualisierung der Psychologie und der Politisierung des Geschlechts. Zentral ist hierfür Sigmund Freud. Indem sich marxistische Denker wie vor allem Wilhelm Reich und Herbert Marcuse sein Denken aneigneten, entstand eine ideologische Mischung aus den Bereichen Sex und Politik. Die Neue Linke, die aus ihrer Synthese hervorgeht, versteht Unterdrückung als eine grundlegend psychologische Kategorie und Sexualmoral als deren primäres Instrument. Damit ist der theoretische und moralische Hintergrund der sexuellen Revolution geschaffen.

Der vierte Teil beschäftigt sich mit verschiedenen Bereichen der heutigen Gesellschaft, um zu zeigen, wie tief die gedanklichen Entwicklungen aus dem zweiten und dritten Teil die moderne westliche Kultur verändert haben. Hier wird der Aufstieg des Erotischen anhand von Beispielen der Hochkultur (Surrealismus) und der Popkultur (Pornografie) gezeigt. Die These ist, dass der Siegeszug der Erotik die Grenzen des akzeptablen Verhaltens oder die Vorstellung von Anstand nicht nur erweitert, sondern die Grenzen in ihrer Gesamtheit abgeschafft habe.

Zum Schluss des Buches werden dann noch einige Überlegungen über die Zukunft entfaltet.

Wer sollte ein solches Buch lesen? Immerhin setzt es beträchtliche historische und geistesgeschichtliche Kenntnisse, auch die solcher Begriffe und Konzepte, voraus. – Auf jeden Fall an solchen Fragestellungen Interessierte, weiterhin unbedingt Studenten der Geisteswissenschaften.

Die Lektüre erfordert über weite Strecken ein hohes Maß an Konzentration. Hilfreich ist dabei aber die gute Gliederung, Hinführungen vor und Zusammenfassungen nach der Entfaltung der Gedanken sowie viele Wiederholungen der Grundgedanken. Die systematische Lektüre bis zur letzten Zeile lohnt sich. Eine wesentlich gestrafftere Version auf Deutsch wäre zu wünschen (auf Englisch gibt es sie schon). Fußnoten, Glossar und Register runden das anspruchsvolle Werk ab.

Insgesamt glänzt das Buch im analytischen Bereich; dabei bleibt es m.E. aber zu oft auf der beschreibenden Ebene. Eine wertendere, biblischere Argumentatonsweise, z.B. in Bezug auf die Hauptinhalte, aber auch auf Islam oder Katholizismus, wäre wünschenswert gewesen. Dies ist aber nicht der Anspruch des Buches.

In dem Interview sagte Trueman: „Ich hoffe, dass es für die Leser die Ursprünge und die Reichweite der Umwälzung deutlich macht, die sich in den letzten 50 Jahren in der Vorstellung vom Selbst auf dramatische Weise in der westlichen Kultur vollzogen hat.“ Dies kann man als gelungen betrachten.

Und beherzigen kann man seinen Rat aus dem Interview: „Lehrt und lernt den ganzen Ratschluss Gottes. Und bildet starke Gemeinschaften in den Gemeinden. Wir benötigen sowohl die Unterstützung durch die Gemeinschaft, um die Dinge zu bewahren, als auch die beständige Erinnerung durch das Wort …, dass Gott allmächtig ist und seine Gemeinde, wie er es versprochen hat, sicher nach Hause bringt. Der, der mit uns ist, ist größer als alle Kräfte, die gegen uns stehen.“

Schließlich bleibt, Autor, Verlag, Übersetzerin usw. für dieses monumentale Werk zu danken.

Jochen Klein

Carl R. Trueman: Der Siegeszug des modernen Selbst. Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg der sexuellen Revolution. Bad Oeynhausen (Verbum Medien) 2022. Gebunden, 524 Seiten ISBN 978-3-98665-022-3, 26,90 Euro.
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