Das Buch Die ganze Wahrheit ist bereits 20 Jahre alt, aber erst jetzt auf Deutsch erschienen. So viel schon vorweg: Die Lektüre lohnt sich, und man kann verstehen, dass das Werk nach seinem Erscheinen in Amerika 2004 verschiedene Auszeichnungen, so auch in der Kategorie Christentum und Gesellschaft, gewonnen hat.
Im Vorwort schreibt Philipp E. Johnson: „Heute berauben intellektuelle Banditen unvorbereitete Jugendliche ihres Glaubens. Sie tun dies mit Argumenten, die auf dem Treibsand des ‚Allgemeinwissens‘ und ‚modernen Denkens‘ gegründet sind. Solche Jugendlichen brauchen einen festen Felsen, und sie müssen wissen, warum der Fels fest ist und warum die Welt den Treibsand vorzieht“. Und die Autorin selbst schreibt in der Einleitung über das Buch: „Es bietet Wegweisung für die Weltanschauungsbewegung. Es will helfen, die falsche Aufspaltung zwischen den Bereichen von ‚weltlich‘ und ‚geistlich‘ zu erkennen, die deinen Glauben in der privaten Sphäre der ‚religiösen Wahrheit‘ gefangen hält. Es will praktische Schritte lehren, in deinem Leben und Handeln eine christliche Weltanschauung zu praktizieren. Und es wird dir beibringen, ein Weltanschauungs-Koordinatensystem anzuwenden, damit du dich in dem Wirrwarr von Ideen und Ideologien zurechtfindest, mit dem wir in der modernen Welt konfrontiert sind ... Wir haben nicht nur ‚die Kultur‘ verloren. Es geht sogar so weit, dass wir zunehmend unsere eigenen Kinder verlieren … Vor allem, weil jungen Gläubigen nicht beigebracht wurde, eine biblische Weltanschauung zu entwickeln … Die großen öffentlichen Institutionen beanspruchen für sich, ‚wissenschaftlich‘ und ‚wertfrei‘ zu sein, was bedeutet, dass Werte in die private Sphäre persönlicher Entscheidungen verbannt werden … Echtes Weltanschauungsdenken ist weit mehr als eine mentale Strategie oder eine neue Ansicht, um aktuelle Ereignisse zu bewerten ... Ein Weg [Gottes] Herrschaft anzuerkennen, besteht darin, jeden Aspekt der Schöpfung im Licht seiner Wahrheit zu interpretieren. Gottes Wort wird dadurch zu einer Brille, die eine neue Perspektive auf all unsere Gedanken und Handlungen bietet.“
Die frühere Agnostikerin Nancy Randolph Pearcey (geb. 1952) studierte Anfang der 1970er Jahre in Heidelberg. Von dort reiste sie in die Schweiz, um sich bei Francis Schaeffer (1912–1984) in der L’Abri-Gemeinschaft mit christlicher Weltanschauung zu beschäftigen. Dies beeinflusste sie nachhaltig. Nach ihrem Bachelor-Abschluss in Philosophie, Deutsch und Musik an der Iowa State University erwarb sie einen Master am Covenant Theological Seminary in St. Louis und studierte dann Philosophiegeschichte am Institute for Christian Studies in Toronto mit Schwerpunkt Philosophie der Antike und der Reformation. Sie arbeitete u.a. am Discovery Institute mit dem Fokus auf kulturelle und philosophische Auswirkungen der Kontroverse um die Evolution. Weiterhin hat Pearcey über Jahrzehnte zahlreiche Vorträge gehalten und Abhandlungen geschrieben. Seit 2012 ist sie Dozentin für Apologetik an der Houston Christian University in Texas.
Dieses Buch ist ein monumentales Werk, und für die komplette Lektüre braucht man Durchhaltevermögen. Es erörtert zentrale Bereiche des Themas „Weltanschauung“ und besteht aus drei Hauptteilen, die jeweils vier Unterkapitel beinhalten. Der erste Teil reflektiert die Frage: „Was gehört zu einer Weltanschauung?“ Die Hauptperspektiven sind Schöpfung, Sündenfall und Erlösung. Pearcey beleuchtet die „säkular/heilig“-Dichotomie, die das Christentum auf den Bereich religiöser Wahrheit beschränkt und zu einem zwiegespaltenen Denken und Leben führt. Hier wird z.B. untersucht, wie es dazu kam, dass die Säkularisten eine gespaltene Denkweise der Christen verschärfen, indem sie behaupten, ihre Theorie beziehe sich nicht auf eine bestimmte Philosophie, sondern sie sei einfach die Denkweise aller vernünftigen Menschen. Pearcey macht dafür u.a. die Hybris der Aufklärung verantwortlich, die behauptet, die Vernunft sei eine transzendentale Kraft, die unfehlbare Erkenntnisse liefern könne. Auf diese Weise, so die Autorin, sei die Vernunft zu einem Götzen geworden und habe die Stelle Gottes als Quelle aller Erkenntnis eingenommen. Ein Denksystem sei eben kein Ergebnis reiner Vernunft, sondern beinhalte auch Vorannahmen. Und die Vernunft sei einfach eine menschliche Fähigkeit, aus Vorannahmen Schlüsse zu ziehen. Die wichtige Frage sei daher, was jemand als letztgültige Vorannahmen betrachte, denn diese prägten alle Schlussfolgerungen. In der Praxis bedeute das, dass Christen oft ihre christliche Weltanschauung über Bord werfen und eine säkulare Herangehensweise übernehmen würden, die man als „wissenschaftlich“ und „wertfrei“ bezeichne. So werde die Evolution als öffentliche Erkenntnis behandelt, die jeder anzuerkennen habe, ungeachtet des privaten Glaubens.
Der zweite Teil fokussiert die Schöpfung als grundlegenden Startpunkt jeder Weltanschauung. Zentral dafür ist im Westen die Kritik des Darwinismus sowohl in seinen „wissenschaftlichen“ Behauptungen als auch in seinen Auswirkungen auf unsere Weltanschauung – und seinen kulturellen Konsequenzen. Man kann das so zusammenfassen: „Evolution trat als eine Art säkulare Ideologie ins Dasein, als ausdrücklicher Ersatz für das Christentum“. So werde sie heute noch als eine „Ideologie verkündet, als säkulare Religion – als eine völlig ausgereifte Alternative zum Christentum, mit Sinngebung und Moral“. Und: Das charakteristische Element des Darwinismus sei nicht die natürliche Auslese, sondern die Ablehnung von Design und Zweck. Die Ablehnung von Design in der Natur sei buchstäblich die Ablehnung Gottes.
Der dritte Teil behandelt Amerika und das Christentum bzw. den Evangelikalismus und versucht zu erklären, warum viele Christen und Evangelikale keine solide Weltanschauungstradition haben. Es geht also darum zu fragen, warum die „säkular/heilig“-Dichotomie hier so beherrschend ist, und deren Geschichte daraufhin zu untersuchen, aber auch wie übernommene Gedankenmuster das heutige Denken immer noch prägen. So ist es dann möglich, selbstzerstörerische Hindernisse für weltanschauliches Denken zu erkennen und zu überwinden.
Im vierten, abschließenden Teil „Christliche Weltanschauung ausleben“ geht die Autorin auf das praktische christliche Leben ein. Je nachdem, wie vertraut man mit den Themen der ersten drei Teile ist, lohnt es sich eventuell, zunächst Teil 4 zu lesen, um die anderen Informationen besser in das christliche Denken einordnen zu können.
Im Anhang folgen noch fünf kurze Kapitel, die an vorherige Inhalte anknüpfen. Sie beinhalten die Themen Säkularisierung der amerikanischen Politik, moderner Islam und New Age, Materialismus vs. Christentum, praktische Apologetik in L’Abri (wo Francis Schaeffer wirkte) und (meist englischsprachige) Literaturempfehlungen. Das Buch enthält viele Fußnoten mit Literaturhinweisen und vertiefenden Informationen. Es wird durch ein Personen- und Stichwortregister abgerundet.
Bei diesen Themen dürfte klar sein, dass die Lektüre ein Interesse an den Hintergründen und auch eine gewisse Routine bei der Beschäftigung mit theoretischen Konzepten voraussetzt. Die Sprache ist allerdings nicht übermäßig abstrakt-theoretisch, der Stil zudem ausgesprochen nüchtern und unpolemisch. Das Buch enthält recht viele Redundanzen, was das Verständnis einerseits erleichtert; andererseits hätte man mit etwas mehr Präzision die Informationen auf ca. zwei Drittel des Textes verdichten können. Die Geschichte der werktätigen Frau in Amerika wird m.E. etwas undifferenziert überidealisiert und die Entwicklung dramatisiert. Die Verzahnung der Hauptkapitel und der Kerngedanken gelingt gut. Auch wenn man sich der einen oder anderen Detailaussage nicht unbedingt anschließen muss, ist die komplette Lektüre dieses Buches doch hilfreich und eine Verbreitung seiner Gedanken wünschenswert, besonders auch unter Oberstufenschülern und Studenten.
Jochen Klein
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