denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Weimar - Kulturstadt Europas 1999

„Ist Wieland hier? Ist Herder hier? Ist Goethe hier?“ fragte ein russischer Reisender 1789 den wachhabenden Sergeanten am Stadttor von Weimar. „Hier, hier, hierA, antwortete dieser, und der Reisende befahl dem Postillon, nach dem Gasthof „Zum Elephanten“ zu fahren.

Christoph Martin Wieland war hier, weil die Herzogin Anna Amalia den Schriftsteller und Professor der Philosophie im August 1772 als Erzieher des Erbprinzen Carl August und des Prinzen Constantin nach Weimar berufen hatte. Wieland kam, weil er glaubte, durch die Erzie­hung des zukünftigen Herrschers „mehr Gutes zu bewirken, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben zu tun im Stande gewesen bin.“ Seine Berufung war ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Weimar zu einem literarisch-kulturellen Zentrum zu machen.

Johann Gottfried Herder, der Philosoph und Theologe, war hier, weil er zunächst (am 12. Juni 1776) zum Generalsuperintendenten des Herzogtums Sachsen-Weimar berufen worden war. Es folgte die Ernennung zum Pastor primarius an der Stadtkirche St. Peter und Paul und zum Oberhofprediger, Oberkonsistorial- und Kirchenrat.

Und Johann Wolfgang von Goethe war hier, weil er am 7. November 1775 als Gast des Herzogs Carl August, der wenige Wochen zuvor die Regierung übernommen hatte, nach Weimar ge­kommen war. Durch die schnelle Bindung an das Hofleben und die amtlichen Pflichten wurde die Stadt sein bleibender Wohnsitz.

Nachdem Anna Amalia nach 16jähriger Regentschaft die Regierungsgeschäfte ihrem Sohn Carl August übergeben hatte, suchte die kunst- und literaturbegeisterte Dame einen neuen Freundes­kreis. So versammelte sie Adlige des weimarischen Hofes und ihrer eigenen kleineren Hofhaltung sowie bürgerliche Schriftsteller und Künstler um sich. In den Wintermonaten fand man sich im Wittumspalais (im „TafelrundenzimmerA), im Sommer auf Schloß Ettersburg und (ab 1781) auf Schloß Tiefurt zum Gedankenaustausch zusammen. Dabei spielten aktuelle Fragen der Kunst, der Musik und des Theaters eine Rolle. Man zeichnete, malte, musizierte und unterhielt sich über literarische Werke, die teilweise von Mitgliedern der Tafelrunde selbst geschrieben worden waren und erstmals vorgetragen wurden. Dazu gehörten unter anderen Goethe, Herder, Wieland und Schiller sowie der Maler Georg Melchior Kraus, der die Tafelrunde in einem um 1795 entstandenen Aquarell festhielt. Es hängt heute im Rokokosaal der Herzogin-Anna-Amalia- Bibliothek.

In Weimar weilten im Laufe der Jahrhunderte auch noch andere berühmte Männer. Martin Luther predigte in der Schloßkirche, und Lukas Cranach der Ältere verbrachte hier seine letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod am 16. Oktober 1553. Johann Sebastian Bach war von 1708 bis 1717 Hoforganist, Violinist und (ab 1714) Konzertmeister in Weimar. Franz Liszt wurde im November 1842 zum Weimarer „Kapellmeister in außerordentlichen Diensten“ ernannt. 1848 entschloß er sich, seinen Wohnsitz hier zu nehmen. Er lebte bis 1861 auf der sogenannten Altenburg, die in dieser Zeit zu einem bedeutenden Kristallisationspunkt des geistigen und künstlerischen Lebens wurde. Danach ging Liszt nach Rom. Von 1869 bis zu seinem Tod 1886 kam er jedes Jahr für einige Zeit nach Weimar.

Wie wurde die Stadt Weimar zur Zeit Goethes beurteilt? Der russische Reisende meinte 1789: „Die Lage Weimars ist artig. Die umliegenden Dörfer mit ihren Feldern und Gehölzen gewähren eine anmutige Aussicht. Die Stadt ist nur klein, und außer dem herzoglichen Palaste gibt es hier weiter keine großen Gebäude.“ Der Philosoph und Historiker Joseph Rückert bemerkte zehn Jahre später: Diese Stadt „gehört seit mehreren Jahren unter die merkwürdigsten und anziehend­sten Städte Deutschlands ... Man hat bisher so mancher ausgezeichneten Stadt den stolzen Namen des deutschen Athens beigelegt. Weimar, dem es nie einfiel, sich ihn zuzueignen, ist dieses Ehrentitels in mehr als einer Rücksicht würdig.“ Und: „Die Schriftstellerei wütet in dieser Stadt gleich einer Seuche, die beide Geschlechter angesteckt hat und niemand verschonet, der Finger und Feder rühren kann.“

Weimars „goldenes Zeitalter“ als Stadt im Zentrum des deutschen Geisteslebens reichte von etwa 1775 bis 1832. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Stadt im Jahre 975 als „Wimares“. 1547 fand der Ausbau zur ständigen Residenz der Herzöge von Sachsen-Weimar statt. Am 14. Oktober 1806 zog nach der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt die französische Armee ein. Auf Bitten der Herzogin Luise ließ Napoleon die Plünderung der Stadt einstellen. Am 6. Februar 1919 trat hier erstmals die verfassungsgebende Nationalversammlung der „Weimarer Republik“ zusammen.

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte Weimars begann 1937, als die Nationalsozialisten auf dem nahe gelegenen Ettersberg das Konzentrationslager Buchenwald errichteten, wohin bis 1945 rund 238 000 Menschen aus 35 Nationen verschleppt wurden. Über 55 000 Menschen fanden hier den Tod.

Einer der Gefangenen berichtet, er habe auf dem Appellplatz im Lager Buchenwald gestanden und sich grenzenlos allein gefühlt, ohne Glauben und zum Selbstmord entschlossen. Da hörte er eine laute Stimme aus dem Fenster einer Bunkerzelle über den Appellplatz schallen. Diese rettete ihn aus seiner Verzweiflung.

Die Stimme gehörte dem Pfarrer Paul Schneider, der seit November 1937 im Konzentrations­lager war, weil er die von den Nationalsozialisten veranlaßte Ausweisung aus seiner Gemeinde nicht akzeptiert hatte. Er wurde immer wieder mit Einzelarrest, Postsperre, Essensentzug und Folter bestraft, da er fortwährend verkündete, daß es kein anderes Heil gibt als nur in Jesus Christus.

Was meinte er damit?

Die Ursache für manches Unheil, das es in der Welt gibt, ist die Sünde. Sünden sind beispiels­weise Gewalt, Egoismus, Bosheit, Neid, Mord, Ungerechtigkeit, Lüge, Gewalt und Ehebruch. Da jeder Mensch gesündigt hat, würde er normalerweise nach dem Tod in die Hölle kommen. Weil Gott aber die Menschen liebt, sandte er seinen Sohn Jesus Christus auf die Erde, um die Menschen vor Elend und Hölle zu retten. Jesus Christus starb stellvertretend für sie am Kreuz. Damit man Vergebung seiner Sünden erhält und somit gerettet werden kann, muß man sie ihm bekennen. Dies ist das Heil, das Jesus Christus anbietet. Lehnt man es aber ab, so wird man sich nach dem Tod statt im Himmel in der Hölle wiederfinden (vgl. Römer 1,18-32; Johannes 3,16; Apostelgeschichte 4,12; Offenbarung 21,8).

Diese Botschaft konnte Paul Schneider bis zum 18. Juli 1939 verkünden. Dann wurde er durch Einspritzen einer Überdosis Strophanthin ermordet.

So kam es dazu, daß der Name der Stadt Weimar bis heute zwiespältige Gefühle hervorruft. Seit Buchenwald ist Weimar nicht mehr nur die Stadt kultureller Blüte, sondern auch die abgrundtie­fen Schreckens.

Daß aber auch die kulturelle Blüte nicht dauerhaft ist, wurde 1838 dem russischen Literaturwis­senschaftler Stepan Schewyrjow bewußt. Als er nach Weimar kam, fuhr er zum Haus Herders, zum Haus Schillers und zum Haus Goethes. Herder war nicht mehr hier, Schiller war nicht mehr hier, und Goethe war nicht mehr hier. „Weimar macht den Eindruck eines Pompeji: die Gräber­straße, die in die von den Einwohnern verlassene Stadt führt, ruft in uns die gleiche Verzagtheit hervor wie heute Weimar: nur Grabmäler und die verödeten Häuser großer Männer“, schrieb der Gast. Weiterhin berichtet er von seinem Besuch im Haus Goethes: „Mit einem peinlich beklem­menden Gefühl stieg ich abermals dieselbe Treppe empor: Der Plan Roms hing noch an der nämlichen Stelle, auch die Statuen standen noch da; desgleichen begrüßte mich das _Salve> vor dem Eintritt ... Aber wie leer war alles und wie verändert!“

Wo mag Goethe zu dieser Zeit gewesen sein? Wo Wieland, wo Herder und wo Schiller?

Jochen Klein

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