denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Deutschlands Befindlichkeit

Zunächst: Ist es legitim, von der Befindlichkeit oder dem Zustand einer Nation zu reden? Elia z.B. tat es: „Die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre niedergerissen und die Propheten mit dem Schwert getötet; und ich allein bin übriggeblieben, und sie trachten danach, mir das Leben zu nehmen“ (1. Kön 19,10). Hier war es so nicht legitim, denn Gott musste Elia darauf hinweisen, dass er „siebentausend in Israel übrig gelassen“ hatte, „alle die Knie, die sich nicht vor dem Baal gebeugt haben, und jeden Mund, der ihn nicht geküsst hat“ (V. 18).

Dieses Grundmotiv finden wir immer wieder im Alten Testament: Das Volk fällt von dem wahren Gott ab, aber es gibt noch Menschen, die sich von der Masse abheben, also eine Ausnahme bilden. Zwar haben die Nationen einen anderen Stellenwert als das irdische Volk Gottes (Israel), aber dennoch können verallgemeinernde Beobachtungen über deren Zustand gemacht werden (wie in der Bibel auch z.B. in Bezug auf die Städte Sodom und Gomorra). So lassen sich in der Geschichte viele Beispiele anführen, wo einerseits die Auswirkungen des Christentums auf Staat und Gesellschaft sichtbar werden, während andererseits Säkularisierungstendenzen ebenfalls oft miteinander vergleichbare Folgen mit sich bringen.

Einige Aspekte der gegenwärtigen Situation Deutschlands werden in einem neuen Buch von Stephan Grünewald dargestellt.1 Zwar sind sie nicht unbedingt neu, und man könnte ihnen auch noch einiges hinzufügen; interessant aber dürfte es sein, welche Beobachtungen er als renommierter Psychologe zusammen mit seinen Mitarbeitern des rheingold-Instituts im Rahmen seiner Kultur-, Markt- und Medienforschung in den letzten Jahren gemacht hat, auch deshalb, weil wir es hier dezidiert nicht mit einer Untersuchung zu tun haben, die von christlichen Prämissen ausgeht (sodass die Ergebnisse eventuell dem entsprechen, was man sowieso erwartet hatte). Die Beobachtungen basieren auf 20 000 Interviews. Hier einige Erkenntnisse:

1. Erstaunlich viele Menschen in Deutschland kämpfen derzeit mit ähnlichen Grundproblemen. Egal ob Manager, Politiker, Arbeitnehmer, Mütter oder Studenten: Verschiedenste gesellschaftliche Gruppierungen beschreiben ein ähnliches Gefühl lähmender Orientierungslosigkeit und sprechen von diffusen Zwängen oder Zuständen hektischer Betriebsamkeit. In den 90er Jahren hat sich eine Idealvorstellung vom Leben entwickelt, die besagt, dass das Leben aus einem nicht endenden Strom berauschender Glücksverheißungen bestehe. Der Glaube, dass man das Paradies bereits auf Erden verwirklichen könne, ist zu einer unbewussten Ersatzreligion geworden, die unsere Haltung zum Leben radikal verändert hat. Ein weiterer markanter Ausdruck des neuen Lebensstils ist eine „coole Gleichgültigkeit“, mit der die Menschen heute der Welt begegnen. Diese „coole“ Lebensstrategie ist mehr als eine souveräne Überlegenheitspose, nämlich eine unbewusste Schmerzvermeidungsstrategie, ein ebenso verzweifelter wie ultimativer Versuch, so etwas wie eine seelische Unverwundbarkeit herzustellen. Was unsere Gesellschaft beherrscht, sind weitsichtige Relativierungskünste des Problematisierens und Ironisierens aus der „coolen“ Distanz, statt tatkräftig anzupacken. Das Fernsehen wird ebenso wie Drogen, Rauschmittel oder Alkohol immer häufiger dazu eingesetzt, sich genau in die Stimmung zu bringen, die den persönlichen Lebensalltag erträglicher macht. So entwickelt sich nicht nur bei der Jugend immer stärker eine Sehnsucht nach einem greifbaren und für den Einzelnen verwirklichbaren Lebenssinn jenseits der Simulationen und Superstarträume.

2. Durch die Maßlosigkeit der Ansprüche und die daraus resultierende Überprogrammierung des Lebens wird der Alltag überfrachtet. Unsere Gesellschaft reibt sich in rastloser Betriebsamkeit auf und verliert dadurch das wirkliche Leben und die eigentlichen Aufgaben aus dem Blick. Dazu gehört, dass die Menschen ständig in die Welt der Medien (Handys, Computer, Fernsehen) eintauchen, was gravierende Folgen für ihr Leben hat. Die Welt der Medien begegnet ihnen als Wunschtraum und unbewusste Ersatzreligion, als Paradiesvorstellung und digitales Lebensideal.Bei vielen ist das ganze Leben entideologisiert und von den Fesseln der Moral, der Werte und der Dogmen befreit. Eine „Relativitätstheorie“ bestimmt das Denken. Diese besagt: Alles in dieser Welt ist relativ, es gibt keine absolute Wahrheit, keine letzte Gültigkeiten. Alles, was die Ideologien als Heilsweg verkaufen, ist nur eine Perspektive, eine Teilwahrheit unter vielen anderen gleichberechtigten Wahrheiten. Wahrheit ist kein Faktum, sondern eine Frage des momentanen Standpunktes. So gibt es auch keine ewigen Werte, sondern alles ist im Fluss und im Wandel. Das Handeln orientiert sich an konkreten Lebensnotwendigkeiten und nicht an einem Programm. Demgemäß ist auch die Comedy-Welle zu verstehen: Das heutige Leben ist nur noch erträglich, wenn am Abend all das wieder relativiert wird, was die Menschen am Tag berührt und beschäftigt hat. Auf der anderen Seite aber hoffen die Menschen, dass das Leben anders wird: Sie spüren die Sehnsucht nach dem wirklichen Leben. Auch bedienen Ratgeber die Sehnsucht der Männer und Frauen nach verlässlicher Orientierung und nach eindeutigen Regieanweisungen für die Gestaltung des Alltags. Daher boomt seit Jahren die Ratgeberbranche. Die Menschen leben heute in einer Welt, in der sie zwar die Freiheit gewonnen, Sinn und Zukunft aber verloren haben. Die Jugendlichen haben das Gefühl, in einer sich auflösenden Welt zu leben, und versuchen fieberhaft, Sinn und Halt zu finden. Sie haben eher das pessimistische Gefühl, dass die Welt immer unüberschaubarer, unbewältigbarer und unberechenbarer wird, sich in ihren Verlässlichkeiten, in ihren festen Ordnungen und Orientierungspunkten schleichend auflöst. So verharren sie in einer Lethargie, bis ihnen jemand einen neuen Sinn und eine entscheidende Richtung weist. Es fehlt heute ein Leitbild, das den Menschen eine klare Richtung und Orientierung geben kann.

3. Die Gesellschaft hat in den letzten beiden Jahrzehnten versucht, den digitalen Traum aufrechtzuerhalten, nach dem man ewig sowie vollkommen frei und ungebunden unendlich viele Sinnoptionen in die eigenen Lebenskreise einbeziehen kann. Der Versuch, auf unendlich vielen Hochzeiten zu tanzen, hat die Gesellschaft schließlich in den Zustand der rastlosen Überdrehtheit und Erschöpfung gebracht. Das Paradies der tausend Möglichkeiten hat sich immer mehr als ein alle Kräfte verzehrendes Sinnvakuum entpuppt. Die heute wieder aufkommende Frage nach dem wirklichen Sinn und die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben erfordert die entschiedene Abkehr von der Sinninflation und ihrer Philosophie des „Alles ist möglich“.

So weit die Beobachtungen Grünewalds.

Wenn es in Israel immer wieder Menschen gab, die trotz eines niedrigen geistlichen Zustandes im Volk an Gott festhielten, ihm treu dienten und versuchten, andere von ihrem bösen Weg abzubringen, dann bleibt die Frage, wie wir persönlich mit den beschriebenen Grundströmungen in der Gesellschaft umgehen – in Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums, aber auch in Bezug darauf, inwieweit wir persönlich eventuell bereits von gewissen Entwicklungen mit erfasst sind. Beten wir darum, dass wir uns positiv von der Masse abheben und eine positive Ausnahme bilden!

Jochen Klein

1 Stephan Grünewald: Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft. Frankfurt am Main 2006.

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