denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Kritisches zu Jean-Jacques Rousseau

„Jean-Jacques Rousseau ist eine ganz besondere, ja einzigartige Figur in der Geschichte der abendländischen Kultur“, meint der Pädagoge Michel Soetard in seinem Werk über Rousseaus Leben und Werk. Und der Historiker Carl Trueman ergänzt: „Angesichts seiner Bedeutung bei der Entwicklung westlichen Denkens, insbesondere für das Selbstverständnis des Menschen, ist er praktisch einer der einflussreichsten Denker der Geschichte“.

Jean-Jacques Rousseau, geboren am 28. Juni 1712 in Genf und gestorben am 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris, war ein französisch-schweizerischer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Komponist, Gesellschafts- und Staatstheoretiker der Aufklärung. Er beeinflusste Literatur, Philosophie, Pädagogik und Entwicklungspsychologie bis ins 20. Jahrhundert hinein, in manchen Aspekten sogar bis heute. Durch seine Betonung der Willensfreiheit sowie durch die Ablehnung der „Erbsünde“ übte er z.B. großen Einfluss auf die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts aus. Eine seiner Kernthesen war, das Wesen des Menschen sei von Natur aus gut und erst durch Zivilisation und gesellschaftliche Zwänge verdorben worden.

Rousseau wuchs als Halbwaise bei Verwandten auf und wurde später Sekretär und Geliebter einer wohlhabenden, zum Katholizismus konvertierten Calvinistin, die auf sein Leben und Schreiben großen Einfluss ausübte. Sie veranlasste ihn, ebenfalls zum Katholizismus überzutreten. 1756 zog er sich in die Abgeschiedenheit zurück, wo er sich vornehmlich als Schriftsteller betätigte. Durch seinen einflussreichen Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ geriet er in Konflikt mit den französischen und schweizerischen Obrigkeiten, weil das Buch „wider den Glauben und die guten Sitten“ sei. Seine leidenschaftliche Verteidigung der Vernunft, der individuellen Rechte und des „Gemeinwillens“ gegenüber dem absolutistischen Staat lieferte mit die theoretischen Grundlagen für die Französische Revolution.

Der vor wenigen Jahren verstorbene Philosoph Robert Spaemann meint: „Rousseau ist in unvergleichlichem Sinne eine exemplarische Existenz. Er hat sich so verstanden und stilisiert … [Er] hat die ‚große Verweigerung‘ vorgelebt wie kein anderer vor und nach ihm.“ In seiner Kühnheit, Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit sei er der moderne Mensch par excellence. Und so sei er „zum Vater aller modernen Modernismen und Antimodernismen geworden: der Revolution und Restauration, des liberalen Rechtsstaats und der populistischen Diktatur, der antiautoritären Pädagogik und des Totalitarismus, des romantischen Christentums und der strukturalistischen Ethnologie“.

Für uns liegt das besondere Interesse an Rousseau darin, wie sich seine Ansichten über Psychologie und Kultur in seinem Menschenbild spiegeln und wie sie unser heutiges Verständnis von der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft prägen. Dies lässt uns nämlich auch aktuelle Entwicklungen besser verstehen.

Zentral für Rousseau ist, dass die gesellschaftliche Ordnung eine Quelle der Falschheit sei. Modern ausgedrückt: der mangelnden Authentizität. Der Mensch werde als moralisch gutes Wesen geboren, durch das gesellschaftliche Umfeld jedoch zum Schlechten verändert. Anders ausgedrückt: „Die Natur ist grundsätzlich gut, und die Entfremdung, die uns verdirbt, ist derart, dass sie uns von der Natur trennt“ (Charles Taylor). Nach Rousseau sind Menschen nicht von Natur aus „Ungeheuer“, sondern werden erst durch gesellschaftliche Konditionierung zu solchen. Es seien die gesellschaftlichen Institutionen, die Korruption und Schlechtigkeit hervorbringen. Dieser Gedanke sollte große Auswirkungen auf sein Denken über Gesellschaft, Ethik, den Einzelnen und auch über Künste und Wissenschaften haben. In ihnen liege die Gefahr, dass sie Heuchelei und Schlechtigkeit förderten. Dies bringe eine Gesellschaft hervor, in der das Bedürfnis, dazuzugehören und sich anzupassen, den Einzelnen dazu zwinge, dem, was er wirklich sei, untreu zu werden. Die Gesellschaft schaffe sich Regeln, an die sich der Einzelne zu halten habe, um akzeptiert zu werden. Diese Regeln stünden im Widerspruch zur einfachen Ökonomie der leicht erfüllbaren angeborenen Wünsche, die durch die leiblichen Grundbedürfnisse im Naturzustand entstehen würden.

Rousseau behauptet also sehr grundsätzlich, dass es die Gesellschaft mit ihren Beziehungen und Gegebenheiten sei, die den Einzelnen entscheidend negativ forme und verändere. Dies ist für einen Großteil des neuzeitlichen liberalen Denkens elementar und von großer Bedeutung für unsere Gegenwartskultur.

Um es noch etwas konkreter zu formulieren: Die ethischen Erwartungen der Gesellschaft als Ganzes an den Einzelnen seien erheblich. Die beschriebene Entwicklung hänge mit einem menschlichen Grundbedürfnis zusammen: dem Wunsch, von anderen anerkannt zu werden – und zwar in einer Weise, die die eigene Identität würdige. Dies sei aber problematisch, da diese Spannung den Ehrgeiz und auch eine wetteifernde, wenn nicht sogar destruktive Haltung gegenüber anderen fördere. Sie störe durch Raffinesse und persönlichen Erfolg das Gleichgewicht, das im Naturzustand bestehe. Eine authentische Selbstdarstellung, wie sie dem hypothetischen (idealisierten) „Wilden“ möglich sei, der nicht durch die Erwartungen der Kultur belastet werde, bleibe also denen verwehrt, die in eine Zivilgesellschaft hineingeboren wurden, da diese Gesellschaft ein solches Verhalten nicht zulasse oder sogar bestrafe. Der authentische Mensch werde von der kultivierten Gesellschaft mit Verachtung betrachtet, eventuell sogar als Verbrecher gesehen. Um einer solchen Gesellschaft anzugehören, müsse man daher die persönlichen, natürlichen Wünsche und Instinkte unterdrücken und sich den gesellschaftlichen Verhaltensvorschriften anpassen. Dabei werde man unauthentisch, d.h. seinem inneren (wirklichen) Selbst untreu. Oder um es modern auszudrücken: Am Ende lebe man eine Lüge.

Rousseau baut jedoch nicht nur einen Gegensatz zwischen der angeblichen Unschuld des Naturzustandes und der Verderbtheit der Gesellschaft auf, sondern begründet seine Auffassung von Ethik ähnlich wie z.B. der empiristische Philosoph David Hume auch im persönlichen Empfinden.

Der zweite bedeutsame Gesichtspunkt in Rousseaus Denken liegt in der Ästhetik als dem Schlüssel der Moral. Der tugendhafte Mensch sei derjenige, dessen Instinkte oder emotionale Reaktionen auf bestimmte Situationen richtig gestimmt seien. Kein Gesetz könne Menschen moralisch machen, wenn ihre Gefühle nicht richtig geordnet seien.

Wenn also nach Rousseau der Mensch im Urzustand von Natur aus die richtigen Gefühle hat, kann das Ziel von Erziehung und Bildung in der realen Welt, in der wir leben, nicht mehr das sein, wofür sie traditionell gedacht war. Es geht dann für den Einzelnen nicht mehr um die Einübung intellektueller, sozialer und moralischer Kompetenzen, die für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft notwendig sind. Im Gegenteil: Bei der Erziehung nach Rousseau geht es jetzt darum, die Person in einer Weise reifen zu lassen, die sie genau vor den kulturellen Einflüssen schützt, die die traditionelle Schulbildung kultivieren soll. Diese führe nämlich dazu, sich von dem zu entfremden, wer man wirklich ist. Sie raube einem die Authentizität.

In der christlichen Tradition macht (z.B. für Augustin) die Tatsache, dass der Mensch von Geburt an verdorben und inneren moralischen Konflikten und Verwirrungen unterworfen ist, die Gefühle und Instinkte zu unzuverlässigen, ja geradezu trügerischen Ratgebern für moralisches Handeln. Für Rousseau hingegen ist der Mensch von Natur aus gut, mit geordneten und auf ethische Ziele ausgerichteten Gefühlen ausgestattet, und erst die Kräfte der Gesellschaft verändern ihn negativ. Daher gibt es in seinem Denken auch eine Spannung, die entsteht, weil man Mitglied der Gesellschaft ist und dadurch für deren pervertierte Ambitionen anfällig wird. Das bedeutet: Nur wenn man der inneren Stimme folgt, ist man wahrhaft frei und authentisch. Unseren Zugang zur wahren Ordnung der Welt und zu unserem Platz in ihr finden wir demzufolge also vor allem über das Innere.

Viele Ideen Rousseaus sind in der westlichen Kultur (oft in Abgrenzung von biblischen Maßstäben) selbstverständliche Grundannahmen geworden. Dazu gehört die Psychologisierung des Selbst, nämlich die Sichtweise, dass die Gesellschaft oder Kultur das eigentliche Problem sei. Dies ist heute wohl eine der einflussreichsten gesellschaftlichen Grundannahmen. Sie beeinflusst z.B. die Bildungswissenschaft oder auch die Debatten über Verbrechen und deren Strafbarkeit. Weiterhin legte Rousseau die Grundlage für die Vorstellung, dass der Einzelne am authentischsten ist, wenn er in der Öffentlichkeit die Wünsche und Gefühle auslebt, die sein seelisches Innenleben prägen. Diese Vorstellung ist z.B. die philosophische Voraussetzung für die moderne Identitätspolitik, wie sie sich insbesondere in der Sexualpolitik unserer Tage zeigt. In der postmodernen Transgender-Bewegung ist diese Konzeption bezüglich Freiheit und Selbstsein wirksam. Die innere Stimme befreit nach diesem Denken von nahezu allen äußeren Einflüssen – sogar unabhängig von Chromosomen und primären Geschlechtsmerkmalen des Körpers. Dies entspricht, wie oben beschrieben, der rousseauistischen Auffassung, persönliche Authentizität wurzele darin, dass die Natur, frei von äußeren kulturellen Zwängen, und das Selbst, verstanden als innerpsychische Überzeugung, die eigentlichen Wegweiser zu wahrer Identität seien.

Eine weitere Konsequenz davon ist, dass die Vorstellung von der angeborenen Unschuld im hypothetischen Urzustand den Weg zu einer kultischen Verehrung von Kindheit und Jugend weist. So zeigen Rousseaus Gedanken über den Naturzustand und die Auswirkungen der Gesellschaft auf diesen eine gewisse antihistorische Neigung. Wenn nämlich der Naturzustand das Ideal ist und die Gesellschaft diesen negativ verändert, wird die Geschichte der Gesellschaft zur Geschichte von Korruption und Unterdrückung der menschlichen Natur. Eine ähnliche Sichtweise ist bei Karl Marx zu finden, der die Geschichte als eine Geschichte des Klassenkampfes interpretiert. Auch in Freuds Zivilisationskonzept ist diese Tendenz zu erkennen. Aktuell gehört hierher die Behauptung, „auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen“ erfordere tatsächlich den Umsturz historischer Definitionen von gesellschaftlichen Praktiken wie etwa der Ehe.

Rousseau lehnte Materialismus und Atheismus und eine generelle Religionskritik ab. Seinen Deismus wollte er als mit dem von allen Dogmen – insbesondere von der von ihm scharf bekämpften „Erbsündenlehre“ – gereinigten Christentum im Sinne der Morallehre Jesu vereinbar verstehen. Der Kern war für ihn die Existenz Gottes als des Garanten von Weltordnung und Sittengesetz. Er war der Meinung, angesichts der intellektuellen Schwäche und Verderbtheit des Christentums seiner Zeit benötige man einen Ausweg, sozusagen eine nachchristliche Religion, die der Republik Dauer und Bestand verleihen sollte. Die „natürliche“, vor der Vernunft Bestand habende Religion wollte er auf das politische Feld ausweiten. Aus seiner natürlichen Religion wird die „religion civile“. Sie sollte z.B. die Volkssouveränität in der Republik verbindlich machen. Alle Bürger sollen dieser religion civile anhängen und sich zu einfachen Einsichten, Dogmen genannt, bekennen. Wer dazu nicht bereit ist, hat im Sinne Rousseaus mit Strafen zu rechnen. In den USA spielt die „civil religion“ als nichtkonfessioneller Überbau immer noch eine wichtige Rolle. „Gott“ wird dort ständig beschworen (von ihm ist auch auf Dollarnoten die Rede), es ist aber nicht der Gott der Bibel, sondern ein abstraktes transzendentes Wesen. Auch in den großen Kirchen kann man zum Teil heute von einer Art Zivilreligion reden, da zentrale biblische Maßstäbe verlassen wurden und ein neues Gottesbild, verbunden mit einer zum Teil in der Tradition Rousseaus stehenden Ethik, vertreten wird.

Nachdem wir nun einige Hauptideen Rousseaus nachgezeichnet haben, dürfte aufgefallen sein, dass manche Aspekte seines Denkens widersprüchlich sind. Es mag aber auch klar geworden sein, wo heute die Anknüpfungspunkte an sein Denken liegen: Viele glauben nach wie vor, dass der Mensch von Natur aus gut sei, oder betrachten die Gesellschaft als verantwortliche Institution für alles Negative. Dies führt u.a. dazu, dass persönliche Schuld relativiert und die Schuld anderer zum Teil maximiert wird (von der Notwendigkeit der Umkehr nach biblischem Maßstab noch gar nicht zu reden). Erfolgt eine Korrektur der ursprünglichen Bedürfnisse, kann der Vorwurf erhoben werden, nicht mehr authentisch sein zu können und/oder diskriminiert zu werden. Eine weitere Folge kann sein, dass die persönliche Verantwortung vor Gott und auch vor den Menschen relativiert oder negiert wird, was zu einer Gesellschaft von Egoisten führt. Weitere Kontraste zum biblischen Denken sind sicher unschwer zu erkennen.

Nehmen wir wieder neu die Gelegenheit wahr, unser Denken an biblischen Maßstäben zu schulen, um nicht diesem mittlerweile in weiten Bereichen salonfähigen Denken zum Opfer zu fallen!

Jochen Klein

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