denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Kritisches zu Sigmund Freud

„Darin sind sich seine Verächter mit seinen Verehrern einig: kein anderer einzelner hat das Denken dieses Jahrhunderts so beeinflusst wie Sigmund Freud. Seine Art der Seelenzergliederung, Psychoanalyse genannt, … ist inzwischen zu einer ideologischen Weltmacht geworden ... Ihre Adepten sind organisiert in exklusive Orden, in deren Hand sich nichts weniger befindet als schlechterdings ‚das kostbarste Instrument der Menschenkenntnis, das wir besitzen‘ (Alexander Mitscherlich). Sie ähnelt einer weltweiten Kirche“[1] – so der letztes Jahr verstorbene Journalist Dieter E. Zimmer.

Wer war Sigmund Freud? Er lebte von 1856 bis 1939 und war Arzt und Psychologe in Wien. 1938 emigrierte er wegen seiner jüdischen Abstammung nach London. Er ist der Begründer der theoretischen und praktischen Psychoanalyse und entwickelte (mit Josef Breuer) das psychoanalytische Therapierverfahren. Dabei meinte er, grundlegende Einsichten in die Triebstruktur menschlichen Verhaltens gewonnen zu haben. Als Zentraltrieb nahm Freud den Geschlechtstrieb an. Da die Entfaltung geschlechtlicher Triebhaftigkeit des Menschen durch gesellschaftliche Regeln und Tabus unterdrückt werde, ergäben sich (so Freud) hieraus Fehlentwicklungen, die zu Neurosen führten. Denen auszuweichen sei lediglich durch Sublimierung (Umsetzung in künstlerische, kulturelle Leistung o.Ä.) möglich. Schließlich weitete er seine psychologische Theorie auf alle geistig-kulturellen, sozialen, mythologischen und religiösen Bereiche aus, z.B. auf Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie auch auf Philosophie, Kunst und Literatur.

Jens Bergmann konkretisiert dies in seinem Buch Der Tanz ums Ich unter der Überschrift „Die Religion unserer Zeit“:

„Wer bin ich? Und warum bin ich, wie ich bin? Was geht in mir vor? Und was in den anderen Leuten? Diese Fragen bewegen uns, weil uns die Mitmenschen rätselhaft erscheinen und weil es uns mit uns selbst häufig ebenso ergeht – wir alle aber irgendwo miteinander auskommen müssen. Aufklärung und Hilfe verspricht die Psychologie. Dank dieser Versprechen ist sie so populär und allgegenwärtig geworden wie keine andere Disziplin. Im Laufe ihrer kurzen Geschichte hat die Seelenkunde … über ihr ursprüngliches Fachgebiet hinaus weitere Sphären erobert. Sie beeinflusst heute Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, unsere Sprache, unser Denken und Empfinden.“[2]

Diesem („therapeutischen“) Denken habe Sigmund Freud den Weg gebahnt: Er „gehört neben Karl Marx und Charles Darwin zu den Denkern, die unser Weltbild verändert haben. Mit der Psychoanalyse stiftete er – wiewohl er als Agnostiker mit Religion nichts am Hut hatte – eine moderne Form der Glaubensgemeinschaft.“[3]

Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Nachdem die Epoche der Aufklärung den Verstand des Menschen (nach der Reformation wieder) auf den Thron gehoben hatte – anknüpfend an die Renaissance und auch an griechische und römische Philosophie – und in diesem Zuge die Bibelkritik ihr zerstörerisches Werk getan hatte,[4] blieb eine Leere zurück, die ausgefüllt werden musste. Um dem zu begegnen, bediente man sich zunehmend der Zerstreuung, des Materialismus, aber auch einer Vergötterung dessen, was man als „Wissenschaft“ verstehen zu können meinte, sowie konkret einzelner Weltanschauungen wie z.B. des Sozialismus, des Evolutionismus oder auch der Lehren Freuds. Der Diplompsychologe Roland Antholzer fasst die Problematik so zusammen:

„Geradezu exemplarisch für die positivistische[5] Anbetung von Vernunft und Wissenschaft ist Freuds Vorstellung, dass das Seelenleben mit Hilfe exakter wissenschaftlicher Forschung durch biologische Kausalzusammenhänge erklärbar sein müsste. So schreibt Freud in ‚Jenseits des Lustprinzips‘: ‚Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten.‘

Die Psyche des Menschen beschrieb Freud als einen nach energetischen Prinzipien funktionierenden Apparat, aufgebaut aus ‚Es‘, ‚Ich‘ und ‚Über-Ich‘ und gespeist von libidinöser[6] Energie, der nach sehr mechanistisch anmutenden Gesetzen funktioniert. Dabei ist der Regelmechanismus nicht etwa im Willen des Menschen zu suchen, sondern im sogenannten ‚Lust-Unlust-Prinzip‘.

Zu dem biologischen Determinismus[7], den Freud ausdrücklich bejaht, tritt also auch noch eine hedonistische[8] Motivationspsychologie. Der Mensch ist letztlich darauf angewiesen, Lust zu suchen und Unlust zu vermeiden. Freud sieht den Menschen mit sich selbst und der Welt im Kampf, von Ängsten und unbewussten Wünschen geplagt. Mehr als von Umwelteinflüssen wird er von angeborenen Instinkten zu bestimmten Verhaltensweisen getrieben.

Freud war auch ein großer Verehrer von Charles Darwin und dessen Werk hat seine Theoriebildung stark beeinflusst … [Er schrieb:] ‚Die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach …‘

Eine höhere Daseinsbestimmung gab es für Freud nicht. Die Natur des Menschen ist ausreichend erklärt durch sein angeborenes Streben nach Maximierung der Triebbefriedigung und Minimierung der Ängste, wobei der im ständigen Konflikt steht zwischen den egoistischen Ansprüchen des Es und den Forderungen des Über-Ich, zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip.“[9]

Die Angreifbarkeit dieser Theorien hatte auch ein erfahrener Psychoanalytiker erkannt, dessen Seminar der spätere Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz während seines Studiums besuchte. Zu Beginn der Veranstaltungsreihe sagte der Dozent: „All diese Psychotheorien sind doch nicht wahr, und wir brauchen sie in Wirklichkeit ja auch gar nicht für die Patienten. Wir brauchen sie für uns, damit wir an sie glauben können. Und wenn wir ganz fest an sie glauben, dann strahlen wir Sicherheit aus. Und diese Sicherheit ist es, die den Patienten hilft“.[10] Weiter schreibt Lütz über seine Psychotherapieausbildung: „Es herrschte bei den meisten Ausbildungsteilnehmern eine ziemlich ernsthafte und ziemlich unkritische grenzenlose Wissbegier für jede noch so weit hergeholte psychologische Theorie, und alles hielt man natürlich für wahr.“[11] Und er fasst zusammen: „Doch die Psychowelt ist nicht wahr, sie ist eine Konstruktion, die manchmal nützlich ist, sie weiß nichts von der eigentlichen Welt, von Liebe, Gott, dem Sinn des Lebens und der Gefahr des Bösen. Sie kennt nur kranke Schuldgefühle und weiß nichts von wirklicher Schuld, sie kennt unersättliche Liebessehnsucht und weiß nichts von wirklicher Liebe, sie kennt religiöse Verirrungen und weiß nichts von Gott oder dem Sinn des Lebens.“[12] Diese Problematik „ist der Öffentlichkeit nicht bewusst. Für sie sind Psychoexperten verehrungswürdige Gestalten mit einem unheimlichen Geheimwissen über Gott und die Welt. Aber das ist natürlich völliger Unsinn.“[13]

So sehen wir nahezu täglich, dass sich Psychologen in zahllosen Bereichen zuständig fühlen. Viele Meldungen fangen mit „Ein Psychologe erklärt …“ oder „Die Psychologie weiß …“ an, und die Menschen denken: Dann muss es ja offensichtlich so sein. Wenn man genauer hinschaut, sieht man aber, dass es sich oft entweder um Binsenweisheiten handelt oder die Aussagen eine Dimension haben, die weit über das Kompetenzspektrum der Psychologie hinausreichen. Auch die Behauptungen, Psychologen könnten (soziale/emotionale) Intelligenz, Persönlichkeit und Kreativität ziemlich genau messen, sind abwegig, ebenso das Selbstverständnis mancher Personalberater, die meinen, Menschen sehr viel besser durchschauen zu können als andere.

Was bleibt? Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Institutionen, die Menschen bei psychischen Erkrankungen helfen, in weiten Bereichen gute und hilfreiche Arbeit leisten. Es sollte aber bewusst gemacht werden, dass in der Tradition von Freud bestimmten Theorien und auch Berufen nahezu religiöse Deutungsmacht zugesprochen wird, und davor ist zu warnen. Lütz schreibt, dass Freud „aus der Psychoanalyse eine Weltdeutung machte, ein Passepartout, mit dem man Leben und Tod, Krieg und Frieden, ja sogar den Moses von Michelangelo angeblich definitiv verstehen konnte. Die Psychoanalyse ließ eine ganze phantastische innere Welt entstehen und füllte so ein Vakuum in einer religionsmüden Zeit“.[14] Wenn in einer Kultur biblisches Denken fast erfolgreich eliminiert worden ist, braucht man eben (Ersatz-) Priester, die die Deutungsmacht besitzen, so wie in den alten Kulturen, z.B. der Babylonier und Assyrer.

Wenden wir uns also wieder mehr der Bibel zu, aus der wir mehr über Deutungen lernen können, als uns vielleicht bewusst ist. Und suchen wir das Gebet, sowohl in Bezug auf die großen Themen als auch in Bezug auf Alltäglichkeiten. Gilt doch letztlich: „Sind die Deutungen nicht Gottes?“ (2Mo 40,8).

Jochen Klein

Literatur:

Klaus Rudolf Berger: Sigmund Freud. Vergewaltigung der Seele. Berneck (Schwengeler) 62004.

Thomas Schirrmacher / Roland Antholzer: Was hilft wirklich? Biblische Seelsorge contra Psychotherapie. Berneck (Schwengeler) 42004. Die beiden Teile sind von der Website des jeweiligen Autors herunterladbar.

Aus eher säkularem Hintergrund:

Jens Bergmann: Der Tanz ums Ich. Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie. München (Pantheon) 2015.

Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt. München (Droemer) 2012.

Dieter E. Zimmer: „Der Aberglaube des Jahrhunderts“. In: Die Zeit 45/1982, Dossier, S. 17–21. Von der Website des Autors herunterladbar.

[1] Dieter E. Zimmer: „Der Aberglaube des Jahrhunderts“, S. 1.

[2] Jens Bergmann: Der Tanz ums Ich. Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie, S. 9.

[3] Ebd., S. 13.

[4] Vgl. Kritisches zur Aufklärung und Das moderne Denken und die Bibelkritik auf www.jochenklein.de, Allgemeine Artikel.

[5] Positivismus: Philosophie, die ihre Forschung auf das Positive, Tatsächliche, Wirkliche und Zweifellose beschränkt, sich allein auf Erfahrung beruft und jegliche Metaphysik als theoretisch unmöglich und praktisch nutzlos ablehnt.

[6] Allen psychischen Äußerungen zugrunde liegende psychische Energie.

[7] Die der Willensfreiheit widersprechende Lehre von der Bestimmung des Willens durch innere oder äußere Ursachen.

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