denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Kritisches zur Postmoderne

Zu verschiedenen Aspekten dieses Themas äußert sich Timothy Keller in seinem Buch Glauben wozu? Religion im Zeitalter der Skepsis[1]. Im Folgenden sind weitgehend zentrale Aussagen daraus zusammengestellt (durch Kursivdruck kenntlich gemacht)[2].

Einführung

Im Artikel Kritisches zur Aufklärung[3] sahen wir u.a.,

  • dass im Laufe der abendländischen Geschichte der Verstand des Menschen immer mehr in den Vordergrund rückte,
  • dass auch die vermeintliche Gegensätzlichkeit von Glaube und Wissen auf diesem Denkschema beruht.

Weiter sahen wir, dass das Denken der Moderne stark von der Aufklärung beeinflusst ist. Dazu schreibt Timothy Keller: Erst in modernen Zeiten meinen wir, die Sicherheit zu haben, dass wir alles berücksichtigt haben, um über Gott richten zu können.

Die Zeit, in der wir heute leben, bezeichnet man aber oft nicht mehr als Moderne, sondern als Postmoderne, was so viel bedeutet wie „Zeit nach der Moderne“. Die Moderne geriet nämlich im 20. Jahrhundert in eine Krise, weil sich die Fortschrittsversprechen und Fortschrittshoffnungen nicht in erwarteter Weise erfüllten. Es wurde immer deutlicher, dass Vernunft und Wissenschaft nicht so leistungsfähig waren, wie es die Vertreter der Moderne gehofft bzw. vorausgesagt hatten. Trotz mancher Erfolge sah sich die Moderne im 20. Jahrhundert einer erschreckenden Bilanz gegenüber: zwei Weltkriege, Umweltzerstörung, Hungerkatastrophen, soziale Ungleichheit, Wirtschaftskrisen usw. Besonders deutlich wurde die Sinnkrise der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb datieren manche Historiker den Beginn der Postmoderne auf das Jahr 1945.

Die Postmoderne

Die Postmoderne ist, kurz gefasst, eine Sammelbezeichnung für eine Geisteshaltung oder Denkrichtung, die sich als Gegen‑ oder Ablösungsbewegung zur Moderne versteht. Der auf rationale Durchdringung und Ordnung gerichteten Moderne stellt die Postmoderne eine prinzipielle Offenheit, Vielfalt und Suche nach Neuem entgegen, die oft als Beliebigkeit kritisiert wird. Der Philosoph Paul Feyerabend brachte diese Überzeugung auf die berühmt gewordene Kurzformel „Anything goes“ – alles ist möglich. Dies bedeutet, dass die unterschiedlichen Sichtweisen alle gleich gut und gleichberechtigt sind – alle besonderen Geltungsansprüche und Wahrheitsansprüche sind dagegen tabu. Erlaubt sind lediglich „subjektive Wahrheitsbekenntnisse“, unerwünscht sind Wahrheitsbehauptungen mit objektivem Anspruch.

Ein anderer Begriff, unter dem man einige Entwicklungen zusammenzufassen versucht, ist „Neue Toleranz“. Traditionell bedeutet Toleranz, dass man Glaubensüberzeugungen oder Verhaltensweisen anderer respektiert oder duldet, auch wenn man sie nicht mag oder teilt. Sie setzt somit eine eigene Überzeugung voraus. Bei der „Neuen Toleranz“ wird jedoch davon ausgegangen, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gebe. Folglich seien alle Werte und Glaubensauffassungen gleich wahr und richtig. Alle Lebensstile seien ebenfalls gleich richtig und alle (subjektiven) Wahrheitsansprüche gleichwertig. Es genüge daher nicht, andere Glaubensauffassungen und Verhaltensweisen zu respektieren. Man müsse sie gutheißen, ihnen zustimmen und sie unterstützen. So kann man auch besser verstehen, warum z.B. die Homosexuellen- und Genderlobby mit einem Anspruch auftritt, der keine andere Position gelten lässt.

Der Soziologe Zygmunt Bauman charakterisiert die Postmoderne folgendermaßen:

„Postmoderne ist ein Freibrief, zu tun, wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichts von dem, was man selbst tut oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen. Sie ist die Aufmerksamkeit, die gleichzeitig in alle Richtungen gelenkt wird, sodass sie sich auf nichts länger konzentrieren kann und nichts wirklich eingehend betrachtet wird. Postmoderne ist die erregende Freiheit, jedes beliebige Ziel zu verfolgen, und die verwirrende Unsicherheit darüber, welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden, und in wessen Namen man sie verfolgen sollte. Die Postmoderne ist all das und vieles mehr. Aber sie ist auch – vielleicht mehr als alles andere – ein Geisteszustand.

Sie ist ein Geisteszustand, der sich vor allem durch seine alles verspottende, alles aushöhlende, alles zersetzende Destruktivität auszeichnet. Es scheint zuweilen, als sei der postmoderne Geist die Kritik im Augenblick ihres definitiven Triumphes: eine Kritik, der es immer schwerer fällt, kritisch zu sein, weil sie alles, was sie zu kritisieren pflegt, zerstört hat. Dabei verschwand die schiere Notwendigkeit der Kritik. Es ist nichts übriggeblieben, wogegen man sich wenden könnte. In rastlosen, sturen Emanzipationsbemühungen wurde eine Hürde nach der anderen genommen, eine Schranke nach der anderen durchbrochen und eine Plombe nach der andere zerstört. Jeden Augenblick geriet eine bestimmte Einschränkung, ein besonders schmerzhaftes Verbot unter Beschuss. Das Ergebnis war schließlich eine universelle Demontage machtgestützter Strukturen. Unter den Trümmern der alten, ungeliebten Ordnung ist jedoch keine neue, bessere Ordnung aufgetaucht. Die Postmoderne (und in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der Moderne, deren rechtmäßige Erbin und Folge sie ist) strebt nicht danach, eine Wahrheit durch die andere, einen Schönheitsmaßstab durch einen anderen, ein Lebensideal durch ein anderes zu ersetzen. Stattdessen teilt sie die Wahrheit, den Maßstab und das Ideal in solche ein, die schon dekonstruiert sind, und solche, die gerade dekonstruiert werden. Sie bereitet sich auf ein Leben ohne Wahrheiten, Maßstäbe und Ideale vor. Der postmoderne Geist scheint alles zu verurteilen und nichts vorzuschlagen. Zerstörung scheint das eigentliche Geschäft zu sein, von dem er etwas versteht, Destruktion die einzige Konstruktion, die er anerkennt.“

Weil die Postmoderne alle Ansprüche angreift und jegliche Bewertungskriterien verwirft, machte sich eine Stimmung von Verwirrung und Ungewissheit breit, bis sie in den letzten Jahren allgegenwärtig wurde.

Sinn in der Postmoderne

Timothy Keller schreibt dazu: Der Philosoph Jean-Francois Lyotard hat die berühmte Definition der Postmoderne als „Ungläubigkeit gegenüber Metanarrativen“ aufgestellt. Eine große Erzählung (Narrativ) ist „eine totalitäre Theorie, die darauf abzielt, alle Ereignisse, Perspektiven und Erkenntnisformen in einer umfassenden Erklärung zusammenzufassen.“

Die Schriftsteller und Denker des 20. Jahrhunderts machten im Zentrum ihrer Kultur ein neues Sinnlosigkeitsloch aus. Sie sprachen von existenzieller Angst und Verzweiflung, von Absurdität und Nausea (Übelkeit) … Dann kam es dazu, dass selbst Sinn für postmoderne Denker zum verdächtigen Begriff wurde … Insofern sei es befreiend, nicht an den einen, großen Sinn zu glauben. In der Moderne trauerten wir um den Verlust dieses Sinnes, doch in der Postmoderne, einem Zeitalter der Freiheit, verabschieden wir uns erleichtert von dem Gedanken, dass es ihn geben müsste.

Dementsprechend sind die westlichen Gesellschaften wohl in der ganzen Geschichte am schlechtesten darin, Menschen auf Leid und Tod vorzubereiten. Denn selbst erschaffener Sinn ist nicht nur weniger rational und gemeinschaftlich, sondern auch weniger belastbar und dauerhaft … Im April 2016 meldete die New York Times auf Seite 1, dass die Selbstmordrate so hoch lag wie seit dreißig Jahren nicht mehr. Zwischen 1999 und 2014 war sie um 24 Prozent angestiegen; der Anstieg in den letzten Jahren lag doppelt so hoch wie in den vorangegangenen sieben Jahren … Warum sollten sich Menschen in der [Post-]Moderne hoffnungsloser fühlen, wo unser Leben doch so viel angenehmer geworden ist und länger denn je währt? … Zahllose Umfragen in den USA und in Europa weisen auf schwindendes Vertrauen in die Zukunft hin und damit auf einen Verlust an Hoffnung.

Freiheit in der Postmoderne

Freiheit wird inzwischen definiert als Abwesenheit von jeglichen Beschränkungen oder Zwängen. Demnach würden wir uns umso freier fühlen, je weniger Grenzen wir für unsere Entscheidungen und Handlungen haben.

Nach der Position der Postmoderne ist Autorität etwas Verdächtiges; niemand sollte das Recht haben, anderen zu sagen, was sie denken oder tun sollen … Charles Taylor [ein kanadischer Philosoph] beschreibt seinen Eindruck von der moralischen Ordnung der säkularen Welt so: „Lass jeden sein Ding machen … man sollte nicht die Werte der anderen kritisieren, denn sie haben genauso das Recht, ihr eigenes Leben zu leben. Die [einzige] Sünde, die nicht toleriert werden kann, ist die Intoleranz.“

Entsprechend sehen heutige postmoderne Denker die Freiheit gerade im Diskreditieren folgender Ideen. Wir werden als frei angesehen, weil es keine kosmische Ordnung, keine typisch menschliche Natur und keine anzuerkennende absolute Moral gibt. Heute gibt es überhaupt keine Grundlagen mehr, weil das Universum selbst willkürlich und zufällig ist. Nichts hat also einen rechtmäßigen Anspruch auf uns und wir können leben, wie es uns passt … Das schließt für viele die christlichen Lehren mit ein. In großen Teilen unserer Gesellschaft wird das Christentum [deshalb] als der Erzfeind angesehen.

Dieses „Prinzip“ nun erhebt die Wahlfreiheit zu einem Absolutum, das sich selbst korrigieren kann und uns genügend Leitung im Zusammenleben vorgibt, ohne irgendwelche Bewertungen vornehmen zu müssen. Der einzige absolute Wert sollte die Freiheit sein und die einzige Sünde Intoleranz oder Bigotterie (übertriebene oder engstirnige Frömmigkeit).

Positive Freiheit nun ist Freiheit für etwas. Unsere Kultur hat aber einen völlig negativen Freiheitsbegriff … Terry Eagleton [ein britischer Literaturtheoretiker] schreibt, dass die gegenwärtige Vorstellung absoluter negativer Freiheit aus der postmodernen Ablehnung aller moralischen Grundlagen und absoluter Werte entsteht ... [Freiheit] ist nur gut, wenn sie uns etwas Gutes ermöglicht. Negative Freiheit ist ein aufgelöster Akkord, eine unvollendete Geschichte. Wir sind erst ganz frei, wenn wir uns in etwas hineingeben (und damit unsere negative Freiheit beschneiden), um etwas Positives damit zu machen … So wie Freiheit in unserer Gesellschaft weitgehend verstanden wird, wirkt sie für Gemeinschaft im Allgemeinen und besonders für dauerhaft-verbindliche, liebevolle Beziehungen zersetzend.

 Identität in der Postmoderne

Viele meinen, dass es unvermeidlich zur modernen Suche nach Identität und Selbstwertgefühl dazugehört, andere zu verachten und auszuschließen. Deshalb sprechen sich postmoderne Theoretiker stark gegen alle binären (dualen) Systeme aus und sagen, dass wir über die Dichotomien von normal/unnormal, legal/illegal, zivilisiert/barbarisch, rational/emotional, gut/böse, ungebildet/gebildet, männlich/weiblich, orthodox/häretisch, Bürger/Fremder hinausgehen müssen. Postmoderne Denker rufen uns auf, binäre Denkmuster fallen zu lassen und jedes Werturteil zu vermeiden.

Trotz vieler Reden über Verschiedenheit, Pluralität und Heterogenität arbeitet postmoderne Theorie oft mit ziemlich rigiden binären Gegensätzen, bei denen diese Begriffe tapfer auf der einen Seite des theoretischen Zaunes stehen und als uneingeschränkt positiv gelten und alles, was als Antithese gelten könnte (Einheit, Identität, Gesamtheit, Universalität), unheilvoll auf der anderen Seite rangieren. So erschafft der Einsatz, alle Unterscheidungen zu verwischen und moralischen Werte abzuschaffen, ein neues binäres System von Guten und Schlechten, in dem der Postmoderne der Held ist und alle, die an veralteten Ansichten über Identität und Moral festhalten, die Schurken sind, die „Anderen“. Trotz ihrer vielgerühmten Offenheit für das Andere kann die Postmoderne genauso exklusiv und beurteilend sein wie die Orthodoxien, denen sie sich entgegenstellt.

Der moderne Säkularismus nun sagt, dass wir unsere Identität finden können, indem wir nur nach innen schauen und uns von Familie, Religionsgemeinschaft und allen anderen Ansprüchen lösen, um unseren eigenen Weg gehen zu können. Die Botschaft unserer Kultur lautet: Such dir keine Bestätigung bei anderen. Bestätige dich selbst, denn du tust, was du willst. Sei, wer du sein willst, egal was andere denken. Das ist der Herzschlag des modernen westlichen „expressiven Individualismus“.

Es ist aber klar, dass es eine Illusion ist, dass Identität einfach ein Ausdruck unserer inneren Wünsche und Gefühle ist. Jeder hat viele starke Gefühle, die in gewisser Weise alle zur Person dazugehören, aber das heißt noch nicht, dass man alle auch ausleben kann oder soll. Wir identifizieren uns nicht mit allen inneren, starken Regungen, sondern verwenden gewisse Filter (unser Wertesystem), um in unserem Inneren die Gefühle herauszugreifen, die wir schätzen und in unsere Kernidentität integrieren wollen.

Viele sagen heute: „Das bin ich – egal, was die Gesellschaft dazu sagt.“ Doch dann sehen wir in den Sozialen Medien, dass sie eigentlich nur ihre frühere Community gegen eine neue ausgetauscht haben und jetzt so über sich denken, wie es dort vorgegeben wird. Robert Bellah  [ein amerikanischer Soziologe] drückt es markant aus: „Die Ironie besteht darin, dass auch hier, wo wir [moderne] Menschen uns für besonders frei halten, wir besonders von den vorherrschenden Überzeugungen unserer Kultur gedrängt werden. Denn es ist eine mächtige kulturelle Fiktion, dass wir unsere innersten Überzeugungen ganz mit uns selbst ausmachen können und sogar müssen.“ Letztlich ist also die moderne Identität (einfach sein Innerstes auszuleben und sich seinen Wert unabhängig von anderen zuzusprechen) unmöglich.

In diesem Zusammenhang ist es noch interessant, dass Studien feststellen, dass die Verbindung zwischen Wohlstand und Zufriedenheit ziemlich lose ist. Je wohlhabender eine Gesellschaft, desto höher die Zahl an Depressionen. Die Dinge, von denen Menschen Erfüllung und Zufriedenheit erwarten, lösen die Erwartungen nicht ein. So meinte bereits der norwegische Dramatiker Ibsen: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.“ Und nichts zerstört sie so sehr, wie tatsächlich seine Träume zu erfüllen.

Paulus nun lehnte den traditionellen wie den modernen Ansatz zur Identitätsfindung ab, die entweder dem sozialen Umfeld oder der eigenen, begrenzten Perspektive alle Macht geben … Sein Blick geht zu einem anderen Richterstuhl und sagt eigentlich: „Mir ist egal, was andere sagen, und auch, was ich selber denke. Alles, was für mich zählt, ist, was Gott über mich denkt.“

Moralische Maßstäbe in der Postmoderne

Wenn wir heute nach den Gründen für moralische Maßstäbe fragen, können unsere kulturellen Institutionen keine Antwort geben. Den „Anspruch, sich seiner Normen aus eigener Autorität selbst zu geben“, hat es als ganze Gesellschaft noch nie in der Geschichte gegeben.

Nun stellt sich aber grundsätzlich die Frage: Wie kann irgendein moralischer Standpunkt für alles wahr sein, wenn Moral immer persönlich oder sozial konstruiert ist? Letztlich sagt sie: „Eure moralischen Werte sind nur sozial konstruiert, aber meine gelten für jeden.“ Diese selbstgerechte, widersprüchliche Haltung ist heute tief in unsere säkulare Kultur eingedrungen.

So steckt unsere Kultur heute also in einer Schizophrenie über moralische Maßstäbe und kann sie nicht gut an unsere Kinder weitergeben. Sie kann nicht einmal erklären, warum wir überhaupt solche Überzeugungen haben. Moderne Menschen sagen, dass sie nicht an absolute Werte glauben, aber sie können nicht leben, ohne sie vorauszusetzen.

So erkennen Derrida und Habermas an, dass die moralischen Werte des humanistischen Säkularismus kein Ergebnis wissenschaftlichen Denkens sind, sondern aus früheren Zeiten stammen und eine theologische Geschichte haben. Menschen in der Moderne behalten sie aus reinem Glauben bei. Und Nietzsches Kritik am säkularen Humanismus hat nie eine echte Antwort erhalten. In einer Bemerkung zu den Werken von George Eliot sieht er voraus, dass die englischsprachige Welt den Glauben an Gott aufzugeben versuchen wird, doch die Werte von Mitgefühl, weltweiter Wohltätigkeit und Gewissensfreiheit beibehalten wird. Doch er sagt voraus, dass in Gesellschaften, die Gott zurückweisen, die Moral selbst zum ‚Problem‘ werden wird. Es wird immer schwerer werden, Moral zu begründen: Menschen werden selbstbezogener werden und nur noch durch Zwang gesteuert werden.

Heute lassen sich moralische Ansprüche also nicht rechtfertigen oder auch nur sinnvoll diskutieren, wenn der andere es anders sieht. Wir können andere nur niederschreien … So werden moderne, säkulare Menschen also damit zurückgelassen, dass sie auf der Konstruiertheit der Moral anderer bestehen, doch sich selbst so verhalten, als ob ihre eigene es nicht wäre. In der Theorie sind wir Relativisten, doch in der Praxis und Interaktion mit Andersdenkenden sind wir Absolutisten. Diese Schizophrenie ist eine Hauptursache für die wachsende Polarisierung in unserer Kultur.

Die Philosophin Elizabeth Anscombe schließt so prägnant, dass moderne Menschen das Wort „sollen“ gar nicht mehr verwenden sollten, weil es nicht mehr zu rechtfertigen sei. Wenn wir das Wort in einem Gespräch einbringen, erwecken wir damit den Eindruck, dass es einen moralischen Maßstab außerhalb von uns gäbe, dem beide Gesprächspartner verpflichtet seien. „Das Konzept von moralischen Verpflichtungen und Werturteilen … sollte aufgegeben werden, denn sie sind Überreste einer früheren Vorstellung von Ethik, die allgemein nicht länger besteht und ohne die diese nur Schaden anrichten.“

So verwundert es auch nicht, wenn nach einer Umfrage 30 Prozent der US-Amerikaner einem starken moralischen Relativismus folgen. Eine Frau wurde gefragt, ob es irgendwelche Terrorakte gäbe, die sie definitiv als absolut falsch bezeichnen würde. Ihre Antwort lautete Nein.

Hier wird nun deutlich, dass der Individualismus auch das individuelle Glück untergräbt. Wir brauchen Hingabe an mehr als uns selbst, damit unser Leben erträglich wird. Ohne dies haben wir nur noch unsere Wünsche und Triebe, die uns leiten, und die sind flüchtig, launisch und unstillbar. So hat Taylor recht, wenn er sagt, dass individuelle Selbstbestimmung zwangsläufig zu einem „milden Relativismus“ führt, weil niemand die Werte und Ziele eines anderen infrage stellen darf, was seinerseits zu „außerordentlicher Sprachlosigkeit“ über unsere gesellschaftlichen Ideale führt.

Schließlich ist der säkulare Optimismus für den menschlichen Geist eine Katastrophe. Er schwächt unsere Fähigkeit, uns Schwierigkeiten und Leid zu stellen, und kann Menschen nicht dazu bewegen, momentanen Genuss für ein größeres Ziel zurückzustellen. Die Fortschrittsideologie schwächt den Geist des Verzichts, der Aufopferung. Der Fortschrittsglaube hat kein wirksames Gegengift gegen die Verzweiflung, weil momentaner Genuss alles ist, worum es in der Geschichte geht. Heute beschränkt sich Hoffnung allein auf den schwindenden Punkt des Ichs. Und Dostojewski hat recht, wenn er in den Brüdern Karamasov schreibt: „Ohne Gott und ein Leben nach dem Tod … ist alles erlaubt“.

 Schluss

Wir werden immer nach der unendlichen Freude suchen, für die wir geschaffen wurden, um sie in Gemeinschaft mit dem Göttlichen zu finden. Wir wenden uns Dingen in dieser Welt zu, um sie zu bekommen, aber verwandeln die Wahrheit Gottes in Lüge und dienen mehr dem Geschöpf als dem Schöpfer. Wir wurden für ein Maß an Freude, Lust und Erfüllung geschaffen, das die besten Dinge dieser Welt nicht produzieren können. Augustins berühmte Worte zu Beginn seiner Bekenntnisse: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir ....“ Wir sind auf Gott hin geschaffen, deshalb kann nichts uns die unendliche Freude geben, die Gott für uns hat ... Die Analyse von Augustinus wird unserer Erfahrung gerecht – im Gegensatz zur evolutionären Erklärung, die unserer ständigen Unzufriedenheit keine Rechnung trägt. Der Gedanke, dass die meisten Menschen im Prinzip glücklich sind, trivialisiert die Sache. Aber sie ist kein bisschen trivial. Manche Menschen haben versucht, ihre Leere mit Millionen von Dollars und unkontrollierter Macht zu füllen, um ihre Impulse und Gelüste zu befriedigen. Doch die Jahrhunderte bezeugen, dass selbst Dinge diesen Ausmaßes das Vakuum nicht füllen können. Das belegt eindrucksvoll, dass die Höhle in unserer Seele tatsächlich tief ist.

Christen glauben, dass der Weg zu spezifischem Wissen über Gott nicht philosophisches Nachdenken ist, sondern Gottes Selbstoffenbarung, also nicht unser Denken, sondern sein Reden. Und natürlich glauben Christen, dass die entscheidende Offenbarung Gottes in Jesus Christus geschehen ist.

Kurzum, wenn wir vernünftig leben und unseren Verstand gut einsetzen wollen, brauchen wir ein neues Herz. Wir brauchen etwas, das uns aus unserer verzweifelten Suche nach Selbsterfüllung, Bestätigung und Bedeutung herauszieht … Langdon Gilkey [ein amerikanischer Theologe] gelangte zu der Überzeugung: „[Menschen] brauchen Gott, weil ihr prekäres und anfälliges Leben letzte Bedeutung nur in seinen allmächtigen und ewigen Zielen finden kann und ihr fragmentarisches Ich sein höchstes Zentrum nur in seiner transzendenten Liebe. Wenn der Sinn eines Lebens lediglich in den eigenen Errungenschaften gesehen wird, sind auch diese angreifbar durch die Wirren und Wendungen der Geschichte und ihr Leben wird immer über dem Abgrund von Sinnlosigkeit und Trägheit hängen. Wenn die letzte Loyalität sich selbst gilt, dann wird ihr Einfluss auf das Leben anderer um sie herum zerstörerisch für die Gemeinschaft sein, von der wir alle abhängig sind. Nur in Gott gibt es eine höchste Loyalität, die keine Ungerechtigkeit und Grausamkeit erzeugt und die einen Sinn stiftet, von dem nichts im Himmel und auf der Erde uns trennen kann.“

Jochen Klein

[1] Gießen (Brunnen) 2019.

[2] Es muss beachtet werden, dass Keller den Begriff modern manchmal im Sinne von „aktuell/zeitgenössisch“ und manchmal auch im Kontrast zur Zeit der Postmoderne verwendet. Der jeweilige Kontext macht aber das Gemeinte deutlich. Auch setzt er manche Passagen in den Indikativ, die konjunktivisch gemeint sind.

[3] www.jochenklein.de

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