denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa

"Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.

- Ein tüchtiger Koch kann auch aus der zähesten Schuhsohle

ein schmackhaftes Gericht bereiten."

Wie schreibt man interessant, anschaulich, kurzwei­lig? Welche Stilmittel kann man sich dafür aneig­nen? Wo sind die Grenzen? Diesen Fragen geht Lud­wig Reiners in seiner Stilkunst nach, die 1943 erstmals erschien und aus der Idee erwuchs, ein Buch über die Kunst zu lehren zu schreiben. Sie wird bis heute von den meisten Rezensenten gelobt, ist aber nicht unumstritten. Mit dem 129. Tausend der Gesamtauflage legte der Verlag 1991 eine über­arbeitete Fassung des Buches vor. Darin wurde auf zeitbedingte Eigentümlichkeiten verzichtet, eine über­mäßig lange Kette von Beispielen getilgt, und formale Eigenheiten des Textbildes wurden geän­dert.

Der Verfasser (1896-1957) - promovierter Jurist und Staatswissenschaftler - schrieb nebenberuflich rund zwanzig Bücher. Es waren vorwiegend populä­re Sachbücher, die keinen wissenschaftlichen An­spruch erhoben. Deshalb nannte er sie "Gebrauchs­literatur". Wenn Reiners schrieb, stellte er sich Men­schen vor. Er betrachtete jedes Buch als ein Zwiegespräch zwischen Autor und Leser. Wenn die Leserwelt verachtet werde und der Gegenstand im Vordergrund stehe, seien Stil, Rang und Widerhall eines Werkes gefährdet, meint er im Vorwort zur Stilkunst.

Wie schreibt man also interessant, anschaulich, kurz­weilig? Oder, um es mit Reiners zu formulieren: "Welche Kochkünste, Gewürze und Zauberkräuter muß man verwenden, um auch die zähesten Schuh­solen schmackhaft zu machen?" Die Antwort ist nicht so einfach: "Nicht mit einem Satz, nicht mit einer Formel läßt sich diese Frage beantworten. Schon deshalb, weil nicht jede Speise die gleichen Gewürze verträgt. Geduldig muß der Leser die fol­genden Kapitel durchgehen, denn diese Frage ist einer der Hauptgegenstände des Buches. Er wird in ihnen hören, wie andere - berühmte oder weniger berühmte - Prosaschreiber mit dieser Aufgabe fertig geworden sind. Er wird in ihnen mancherlei Gewür­ze kennen und anwenden, aber manche andere auch verachten und verschmähen lernen. Er wird erfah­ren, daß es wirklich auch hier Zaubermittel gibt - wunderkräftig wie jene geheimnisvollen Kräuter aus Tausendundeiner Nacht - und daß es immer Koch­künstler gegeben hat, deren gesegnete Hände das zäheste Leder abstrakter Untersuchungen weich und genießbar machen konnten. Aber er wird freilich auch an die Grenzen jedes Kochbuches gelangen, wo man die wunderbar bereitete Musterspeise nicht mehr erklären, sondern nur noch auf den Tisch set­zen kann und sagen: Sieh und iß!"

Wolle man nun einen guten Stil schreiben, so sei es zunächst unabdingbar, Stilgefühl und Stiltechnik zu entwickeln, meint Reiners: Stilgefühl, um gut und schlecht unterscheiden zu können; Stiltechnik, um das Schlechte zu unterlassen und das, was man als gut empfinde, umzusetzen. Daß es bei der Suche nach einem sicheren Maßstab für richtiges und gutes Deutsch genüge, wenn man sich die `DichterA als Vorbild nehme, dürfte leicht übertrieben sein. Diese Position resultiert aus der B sprachwissenschaftlich veralteten B Vorstellung, daß die Sprache ein be­herrschbarer Organismus sei, dessen Meister dann die Schriftsteller wären.

Wenn man jetzt einen Text schreiben möchte, der seine Wirkung nicht verfehlt B worauf muß man dann achten? Grundsätzlich müsse der Stil abwech­selnd sein, da Lesen eine einseitige, oft ermüdende Beschäftigung sei. Weiterhin dürfe sich der Text nicht nur an eine Denkmaschine richten, sondern an den ganzen Menschen, das heißt an Gefühl und Ver­stand. Sich nur an den Verstand zu richten habe zur Folge, daß man nie gut schreiben werde. Nur was aus Gefühl und Willen stamme und Gefühl und Wil­len aufrufe, könne bis in die Tiefe durchschlagen. Zeiten reiner Verstandesherrschaft seien immer auch Zeiten langweiliger Prosa gewesen. Streitschriften seien fast immer in gutem Stil geschrieben, weil einige Stilkrankheiten aus einem Mangel an Leiden­schaft resultierten.

Diese für lebendiges und gutes Schreiben notwendi­ge Leidenschaft nennt Reiners auch `inneren DrangA. Er meint, wo er fehle, komme es zu einem `PapierstilA, der sowohl langweilig als auch gestelzt sei und `so künstlich, so kraftlos und tot wie alles PapiereneA. Die maßgebliche Schuld an dessen Ver­breitung hätten die großen Sprachbildner unserer Zeit: Schule, Medien und Behörden. Im Kampf ge­gen ihn müsse man in der Schule die Kinder Auf­sätze im schönsten Redeton schreiben lassen: Ge­spräche, Briefe und Erzählungen. Darüber hinaus sei es besser, wenn die Kinder die Aufsätze nicht schreiben, sondern vor der Klasse erzählen müßten. Dies sei ein gutes Mittel zur Einübung eines natürli­chen Stils, da die gesprochene Sprache den be­stimmten, entschiedenen Ausdruck bevorzuge, den anschaulichen statt des abstrakten; sie stelle die Worte nicht nach Regeln, sondern nach Gewicht; sie baue kurze, beigeordnete Sätze; sie lege die ent­scheidende Mitteilung ins Zeitwort, nicht ins Haupt­wort.

In diesem Zusammenhang hält Reiners es für wich­tig, einen möglichst `natürlichenA Stil anzustreben, der `unnachahmlichA sei. Alles Manierierte könne man nachahmen, wiederholen und parodieren. Phra­sendrescher blieben in allgemeinen Redensarten ste­cken. Um einen natürlichen Stil zu schreiben, müsse man Echtes vom Unechten trennen. Der Text dürfe nicht `geredetA, sondern er müsse `gestaltetA sein. Geredet sei das, was in den niederen Stilschichten verbleibe. Zu jenen Schichten gehöre alles, was ab­gegriffen und verschlissen sei, also die Formeln der Schablonensprache, die steifen Redensarten des Pa­pierstils, die Wendungen nachlässiger Alltagsrede, die `GemengselA des Fremdwortstils und das, was der Autor nicht völlig durchgearbeitet habe. Wer Schachtelsätze baue, die Handlungen in Hauptwör­ter zwänge, die Worte nach dem grammatischen Schema stelle und nicht nach dem Sinnwert, wer die saloppe Wendung, den schlampigen Ausdruck, das weitschweifige Gerede dulde, wer verschwommene, undeutliche, nicht zu Ende gedachte Sätze durch­gehen lasse, kurz, wer seine ersten Entwürfe vor­zusetzen wage, der möge ein Gelehrter von Rang und Namen sein, seine Prosa aber habe kein Ge­wicht.

Was aber hat Gewicht, was ist gestaltet? Gestaltet und nicht geredet sei nur eine Sprache, in der die Spannungen des Menschenlebens lebendig seien und nicht durch ein geistvolles Schema oder einen ge­wollten Tonfall verleugnet würden. Wer zur Denk­maschine anderer spreche, der könne überzeugen und Bewunderung erregen; mitreißen und erschüt­tern könne er nicht. Gestaltet sei nur eine Prosa, deren Schönheit wir empfänden, ohne sie zu bemer­ken. Erst in dem befriedigten Gefühl, mit dem wir das Buch aus der Hand legten, spürten wir, daß es in gutem Stil geschrieben sei. Stilschönheiten seien unauffällig wie gute Kleidung. Deshalb sei die Ein­fachheit der gerade Weg zu gestalteter Prosa, die nicht über die Dinge spreche, sondern sie vor uns hinstelle. Wer einfach schreibe, wende nicht mehr stilistische Kunst an als jeweils notwendig; aber er scheue sich nicht, die angemessenen Mittel auch einzusetzen.

Wenn nun die Wirkung gestalteter Prosa auch auf Gefühlen basiert, dann muß man Reiners recht ge­ben, wenn er die Bedeutung der Atmosphäre von Wörtern hervorhebt. Diese und nicht die Bedeutung eines Wortes würden über dessen Stilwert entschei­den, da sie Anklänge in den Menschen hervorrufe. Um aber die Atmosphäre eines Textes positiv zu beeinflussen, seien fast immer Witz und Humor will­kommen. Grabreden abgerechnet, gebe es kein Stück Prosa, das nicht durch ein wenig Heiterkeit gewinne, da der Mensch nichts sehnlicher wünsche, als aus dem graugestrickten Netz des Alltags he­rauszukommen. Heiterkeit sei jedoch Gnade, da die Notwendigkeit von Witz und Humor sich zwar in einer Stilkunde überzeugend vertreten, aber nicht theoretisch lehren lasse.

Wie wir bisher sahen, hält Reiners es für wichtig, beim Schreiben `zum Herzen eines MenschenA zu sprechen. In diesem Zusammenhang mißt er den Augen einen besonderen Stellenwert bei, weil der Mensch ein `Augen-TierA sei. Niemand lerne schrei­ben, der nicht sehen gelernt habe. Wenn einer das Wort ergreife, dem diese Welt nicht stumm sei, dann stehe sogleich das wirkliche Leben vor dem Rezi­pienten. Dabei sei zu beachten, daß ein Bild mehr als ein Katalog von Einzelheiten sei. Es komme da­rauf an, die eine Besonderheit eines Vorgangs he­rauszufinden, die ihn von allen anderen unterscheide und die seine Stimmung ausmache. Diese Beson­derheit müsse man in ein Wort bannen. Wegen der Unzulänglichkeit anderer Ausdrucksmittel würden Bilder benötigt. Sie brächten Besonderheiten eines Gedankens zum Ausdruck, die kein Gradnetz ra­tionaler Gedanken erfassen könne. Die Kunst des Bilderfindens sei allgemein eines der schwierigsten Stilprobleme. Besonders schwierig sei es, geistige Dinge anschaulich zu erfassen. Es erfordere Phanta­sie und Weltkenntnis. Zur anschaulichen Darstel­lung gehörten die Erziehung des Auges und die Schu­lung des Ausdrucks. `Versuche genau zu spre­chen, und du bist gehalten, bildlich zu sprechenA, habe Murray gesagt.

Weil Bilder zugespitzt sein könnten, könnten sie kurz sein; so seien sie das stärkste Mittel der Ver­dichtung. Überhaupt gelte auch von Bildern, daß sie besser Vorgänge als Zustände darstellten. Weil Bil­der Stimmungsträger seien, könnten sie Werturteile B lobende und vernichtende B viel unmerklicher auf den Leser übertragen als wohlabgewogene Argu­mentation. Auch für Bilder gelte wie für viele Stil­mittel: Gute Bilder könne man nicht lehren, man könne nur Beispiele hinstellen, mehr zum Genuß als zur Nachahmung. Die großen Bildmeister wählten für ganz naheliegende Dinge ganz fernliegende Bil­der. Reiners faßt zusammen: `Der Bildersaal ist durchschritten; was können wir aus dem Spazier­gang lernen? Wann soll man Bilder in die Darstel­lung einflechten? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Niemals! Wer diesen Ratschlag befolgt, wird nämlich Bilder nur schreiben, wenn sie sich ihm aufdrängen, und nur diese Bilder sind gut. Wer Bilder sucht, wird sie nicht finden ... Wem sich aber ein Bild so aufdrängt, daß er ihm nicht entrinnen kann, der prüfe sorgfältig, ob es weder abgegriffen noch herbeigekünstelt ist.A

Weitere wichtige Kriterien für einen guten Text sind Klarheit und Knappheit. Der Leser liebe die Knapp­heit, weil sie sich so angenehm lese, und der Schrei­ber liebe die Breite, weil sie sich so leicht schreibe, meint Reiners.  Auch hier gelte das Gesetz der ab­nehmenden Reizwirkung: Je kleiner der Sprachauf­wand im Verhältnis zum Inhalt, desto größer die Wirkung. Die knappe Darstellung sei kein Natur­produkt, sondern ein Kind des Rotstifts. Übermäßi­ge Verknappung des Ausdrucks gefährde jedoch die Klarheit. Eine weitere Gefahr des Kürzens liege darin, daß, wer kürzt, auch färben könne. Er könne weglassen, was nicht zu seiner Tendenz oder seiner Sensationslust passe. Das Kürzen werde dann mit der Wahrheit bezahlt. Der Schlüssel zur Klarheit nun sei die sprachliche Ordnung. Damit meint Rei­ners, daß der sprachliche Ausdruck so ablaufen müsse wie der Gedanke, was in der durchschnitt­lichen Gelehrtenprosa leider selten vorkomme. Bei dem Bemühen um Klarheit müsse man die Verständ­lichkeit für den berufenen Leser zum Ziel haben. Berufen sei der Leser, der hinreichend vorgebildet, hinreichend gescheit und hinreichend aufnahmewil­lig sei.

Der erste Lehrsatz (des `Schlüssels zur KlarheitA) der sprachlichen Ordnung heiße: Man kann nicht zwei Gedanken auf einmal aussprechen. Der erste Ratschlag zur Klarheit sei, daß wir zur Vermeidung von Unklarheit Worte wiederholen sollten. Wer zu­dem kurze, übersichtliche Sätze forme, der mache die Dinge klar, der wirke überzeugend und zupa­ckend. Grundsätzlich beherrsche das konkrete Detail den Stil. Es gebe ihm seine Zuspitzung, und wer zugespitzt schreibe, schreibe treffend. Auch Verglei­che und Beispiele seien oft Mittel der Zuspitzung, denn sie gäben der Darstellung die Lebenskraft des Individuellen. Hier wie überall zeige sich der enge Zusammenhang zwischen Form und Inhalt. Man könne sich nicht zugespitzt ausdrücken, wenn man breiartig gedacht habe. Nur eine entschiedene An­sicht lasse sich in eine gegenständliche Form klei­den. Ungesucht und doch zugespitzt zu schreiben sei schwer. Um diese Kunst zu lernen, müsse man zwei Schwächen überwinden: auf der einen Seite die Be­quemlichkeit, welche die erste Formulierung, die ihr einfällt, schon für ausreichend hält, auf der anderen Seite die Eitelkeit, welche beifallslüstern die Wahr­heit dem Glanz des Ausdrucks aufopferte. Beson­ders dankbar sei der Leser, wenn ihm am Schluß eines Gedankengangs das Ergebnis zugespitzt und verdichtet wiederholt werde. Er liebe es, die Wahr­heit gleichsam in einer Nuß zu erhalten.

Wie in einer Nuß präsentiert Reiners seine Erkennt­nisse über die Kunst zu lehren in einem eigenen Ka­pitel mit achtzehn Unterpunkten. Wie in einer Nuß sollen die Grundthesen B des Buches und des Kapi­tels B nun präsentiert werden.

Der Verfasser beginnt mit dem Thema Auswählen. Gemeint ist damit, daß es B gerade für Wissen­schaftler B schwierig ist, sich in den hineinzuverset­zen, der gerade erst beginnt. Deshalb müsse man durch Auswahl beim Lehren schwierige Gebiete durchsichtig machen. Dazu gehörten ebenso Streben nach Einfachheit, Klarheit und Vereinfachung wie Selbstverleugnung.

Beabsichtige man einen längeren Text zu schreiben, so sei es nicht nur wichtig, eine Gliederung voranzu­stellen, sondern sie müsse auch im laufenden Text deutlich hervortreten. Das Inhaltsverzeichnis gehöre an den Anfang, nicht an den Schluß, denn vor Be­ginn des Lesens müsse man einen Überblick über den Inhalt haben.

Grundsätzlich gelte es zu bedenken, daß die Voraus­setzungen oder die Grundlagen der Dinge, über de­ren Probleme geredet werden solle, dem Leser oft unklar seien. Es genüge aber nicht, daß er die Pro­bleme kenne, sondern sie müßten ihm auch auf den Nägeln brennen, da es keinen Zweck habe, den Men­schen Fragen zu beantworten, die sie gar nicht gestellt hätten. An den Anfang gehöre deshalb ein Den­kreiz, der den Leser überzeuge, die Lösung für ein wichtiges Problem vorzufinden. Nur so lese er die Abhandlung mit dem nötigen Tiefgang.

Wenn man nun erreichen wolle, daß die Probleme dem Leser wichtig, lebendig und aufregend sowie Teil seiner geistigen Welt würden, müsse man die Fragen lebendig machen. Dies gelinge, indem eine Brücke vom Thema zu den eigenen Angelegenheiten des Lesers geschlagen werde. Jedem Gegenstand, auch dem kleinsten und gleichgültigsten, werde des­halb ein Rahmen gegeben, indem man ihn in einen Zusammenhang einbette, der den Leser berühre. Um eine Brücke vom Leser zum Gegenstand zu schla­gen, gebe es noch einen verwegenen Kunstgriff: das anschauliche Beispiel, weil das Individuelle ihm immer lebendiger scheine als das Allgemeine.

Brenne dem Leser das Problem auf den Nägeln, dürfe man ihm die Lösung nicht schenken. Sie müs­se Schritt für Schritt erarbeitet werden, indem der Schreiber die Lösung vor den Augen des Lesers entstehen lasse. Geschenktes Wissen hafte nur an der Oberfläche und falle leicht ab, erarbeitetes Wis­sen werde ein Teil unseres Wesens.

Grundsätzlich genüge es nun nicht, daß ein Autor verstehe auszuwählen, sondern er müsse auch schat­tieren können, das heißt, wer jedes entbehrliche Wort weglasse, müsse noch Wichtiges bringen und Minderwichtiges. Das Minderwichtige solle im Schat­ten bleiben. Weitere Aspekte, die Reiners dann in dieser Reihenfolge aufführt, sind vereinfachen, ins einzelne gehen, in kleinen Schritten vorgehen und Allgemeines durch Besonderes darstellen, Ver­gleiche verwenden und Einwände berücksichtigen: `Denn viele Menschen sind beim Lesen bemüht, zur Beruhigung ihres Selbstgefühls Fehler zu entdecken. Alle diese Einwände muß der Verfasser erraten und rechtzeitig widerlegen, sonst schleppt sie der Leser ständig mit sich herum und sie versperren ihm das Verständnis für alles Folgende.A Die Antworten dürften nicht allgemein, sondern sie müßten be­stimmt sein. Fachausdrücke seien zu meiden. Die Kapitel müßten verzahnt sein, das heißt, da sich alle Kapitel überschnitten, müsse man ein schon erörter­tes Problem oft von einer anderen Seite neu anpa­cken.

Unter dem Punkt Hilfsmittel Auge führt Reiners die schon weiter oben ausführlich behandelten Aspekte auf, nämlich daß der Mensch ein `Augen-TierA sei und daß das Auge noch lange aufnahmefähig sei, wenn der Verstand schon ermattet sei. Sehen sei leichter als Denken. Diese Aufnahmebereitschaft des Auges müsse man ausnützen. Weiterhin finde man viel mehr Gelegenheit zu Bildern, als die armen Schreib­tischmenschen glaubten; Menschen, Land­schaften, Gebäude, Kunstwerke, Geräte: den Leser freue alles, was er sehen könne. Für die Lehrkunst gelte: Worte verwehen leicht, Bilder haften.

Bezüglich der Zahlen sei es allgemein unentbehrlich, sie zu übersetzen, das heißt, sie für den Leser leben­dig zu machen, indem man sie in einen Zusammen­hang stelle.

Schließlich sei es angebracht, von Zeit zu Zeit die Ausführungen zusammenzufassen (beispielsweise am Ende eines Kapitels), da man nicht davon ausge­hen könne, daß der vorher behandelte Stoff dem Rezipienten noch präsent sei. Solche Zusammenfas­sungen seien auch erzieherisch für den Verfasser selber. Wenn er eine Zeitlang nur unbestimmte All­gemeinheiten gesagt habe, werde dies bei der Zu­sammenfassung offensichtlich. Solche Arbeit segne nicht nur den Schüler, sondern noch mehr den Leh­rer. Die Darstellung verbessern heiße den Gedanken verbessern.

Damit sind wir am bzw. beim Ende. Auf ein gutes Ende legt Reiners mehr Gewicht als auf einen guten Anfang. Das Ende eines Buches oder eines Aufsat­zes solle einen Abschluß bedeuten. Sämtliche Fra­gen, die in einem Rahmen liegen, sollten beantwortet sein. Aber dieses Ziel sei unerreichbar, weil in der Wirklichkeit alle Probleme miteinander zusammen­hingen. Wenn wir das Buch aus der Hand gelegt hätten, bleibe uns Zeit genug, die Unzulänglichkeit alles Endlichen zu empfinden. Um uns über dieses Gefühl hinauszutragen, verlangten wir unwillkürlich von dem Ende mehr als von der übrigen Darstellung. Der Schluß solle inhaltlich eine Steigerung in sich tragen und sich formal in einem gewissen Abstand zum übrigen Werk befinden. Das Ende dürfe nicht verplätschern, es müsse einen deutlichen Schluß­punkt oder einen Schlußanstieg bringen.

Einen Schlußanstieg könne man z.B. auf zwei oft begangenen Wegen erreichen: Der Zusammenfas­sung und dem Ausblick. Während die Zusammen­fassung versuche, den Inhalt der Abhandlung kurz zusammenzudrängen, ziehe der Ausblick aus dem Ergebnis Folgerungen, oft auch für andere Gebiete. Aber die besten Buchschlüsse verzichteten auf alle diese Wege. Sie gewännen die Würde, die dem Ende zukomme, lediglich dadurch, daß sie den Schluß­worten der Erzählung durch einen höheren Blick­winkel und einen abgewogeneren Rhythmus, biswei­len auch durch Bildkraft, Gleichnis oder Humor ein stärkeres Gewicht gäben.

Alles in allem: Wie schreibt man nun interessant, anschaulich, kurzweilig? Man betrachte einen Text als Dialog, wende sich an den `ganzen MenschenA, also an dessen Herz und Verstand, drücke sich klar und präzise aus und hüte sich vor `SchwafelnA, `PhraseA und Weitschweifigkeit; man verwende individuelle Bilder; und: `Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche DingeA (Schopen­hauer).

Letztgenanntes Kriterium erfüllt Reiners meister­haft. Seine gut gegliederte und mit vielen Beispielen versehene Stilkunde umfaßt beinahe 550 Seiten. Sie hat sechs Teile und viele Unterkapitel und eignet sich ausgezeichnet zum Nachschlagen, da fast jeder Unterabschnitt für sich verständlich ist. Dieser au­genscheinliche Vorteil stellt sich jedoch für den Le­ser des ganzen Buches als Nachteil heraus. Bei einer vollständigen Lektüre wirken häufige Wiederholun­gen der Kerngedanken störend. Zu lange Kapitel (z.B. 48 Seiten über Fremdwörter) sowie eine über­mäßige Anhäufung von Beispielen zeugen zwar von dem umfassenden Wissen des Autors, werden aber als das empfunden, wovor er wiederholt warnt: als Weitschweifigkeit. An der Neuauflage ist zu bemän­geln, daß manche Beispiele hätten entfernt werden müssen B z.B. zu `StilhärtenA oder `Verächtlich­machungenA B, da sie heute keine Gültigkeit mehr besitzen.

Die Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa auf 300 Seiten wäre B bei der für Reiners typischen sou­veränen Ausführung B eine perfekte Umsetzung des­sen gewesen, was der Verfasser in diesem fast 250 Seiten längeren Werk fordert. Trotz allem: Eine lohnende Lektüre, die zweifelsohne als Meisterwerk der Lehrkunst angesehen werden darf.

Anhang

- Jeder Schreiber, der gelesen werden will, steht von jeher vor der Aufgabe, sich einen Anfang auszuden­ken, der seinen Text sogleich aus dem Meer des Geschriebenen heraushebt. Wenn die ersten Sätze den Leser nicht fesseln, ist er für den Text verloren.

- Synonyme. Wechsle den Ausdruck! So haben wir es fast alle in der Schule gelernt. Aber wer verstan­den werden will, wechsle den Ausdruck nicht; wer kraftvoll schreiben will, wechselt den Ausdruck nicht; und `SynonymeA gibt es nicht B es sei denn, man legte die Bedeutung `sinnverwandtes WortA so aus, daß man sich leichtsinnigerweise mit einem geringeren Verwandtschaftsgrad zufrieden gibt. Va­riieren darf und sollte man die Nebensachen.

- Auch feilen will gelernt sein. Da wir nicht bei ei­ner Durchsicht auf alle Fehler achten können, so müssen wir unsere Entwürfe mehrmals durchgehen und jedesmal etwas anderes im Auge behalten, näm­lich 1. inhaltliche Fehler, 2. Knappheit, 3. Zuspit­zung und Anschaulichkeit des Ausdrucks, 4. Ver­meidung unnötiger Haupt- und Beiwörter, 5. Satz­bau, 6. Klang.

- Jede gute Prosa hat einen gewissen Rhythmus. Erlernen läßt sich nur die Vermeidung grober Ton­schnitzer. Lautes Vorlesen ist der einzige Weg zu diesem Ziel. Kenntnis einiger Erfahrungssätze wird ihn erleichtern. Man schreibt nicht mit der Feder, sondern man schreibt mit Mund und Ohr.

- Die beiden Pole der Tonstärke sind Schreistil und flauer Stil. Wenn das Wort zu groß ist für einen Gegenstand, entsteht der Schreistil; wenn der Ge­genstand zu groß ist für das Wort, der flaue Stil. Die Stilschreier ahnen nicht, daß man dem ruhigen, ja dem leisen Redner aufmerksamer zuhört als dem brüllenden. Wer die Tonstärke übersteigert, steht immer an der Grenze des Lächerlichen. Wir brau­chen nicht zum Superlativ, nicht zu dem abgegriffe­nen sehr, nicht zu den herkömmlichen Schreiaus­drücken zu greifen. Wir haben Stilmittel über Stil­mittel, um sie zu ersetzen. Wird der Ausdruck all­zusehr abgemildert, so entsteht der flaue Stil, der nichts beim Namen nennt. Er ist nicht nur gedämpft, sondern verwaschen. Jedes Urteil wird durch fast, gleichsam, sozusagen, wohl kaum, doch, irgendein wieder halb zurückgenommen. Diplomatisierend wird der Stil auch dann, wenn der Text etwas an­deuten möchte, das man offen auszusprechen nicht den Mut hat. Er überläßt dem Leser, wieviel er in die Worte hineinlegen will.

Im Hohepriesterstil mißbraucht der Autor seine Macht­stellung gegenüber dem Leser, im spieleri­schen Stil seine Machtstellung gegenüber der Sache.

Literatur

Reiners, Ludwig: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München 1991 (11943).

Schneider, Wolf: Deutsch für Kenner. Die neue Stilkunde. Hamburg 1987.

Oktober 1997                                                                                                                                                   Jochen Klein

PDF herunterladen