1996 mahnte Helmut Kohl beim Festakt zum 100-jährigen Jubiläum der DG Bank, ein Land, in dem Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug als Kavaliersdelikte angesehen würden, habe „seine Zukunft schon verloren“. Die Gesellschaft brauche den Konsens, „dass man so etwas nicht tut“ (Der Spiegel 37/1996, S. 23,25).
Wie wir heute wissen, stimmte Kohls eigenes Verhalten mit diesen Grundsätzen nicht unbedingt überein. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb kürzlich unter der Überschrift „Tanz ums goldene Kalb“: „Am Ende des Jahrtausends steckt die Gesellschaft in einer tiefen ethischen Krise. Der Konsens darüber, was gut und was böse ist, schwindet, in der Politik spielt das Gemeinwohl kaum eine Rolle, in der Wirtschaft dominiert der Eigennutz. Sind die Deutschen ein Volk ohne Moral?“ (51/1999, S. 50).
Einige Beispielfälle werden dann genannt, um zu dem Schluss zu kommen: „So unterschiedlich die Fälle auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen zweierlei: Es geht um Geld und Moral – und alle Akteure sind so weiß wie die Unschuld vom Lande“ (S. 50).
Wenn Der Spiegel behauptet, die Entwicklung zu einer „Wert-losen“ Gesellschaft sei am greifbarsten in der Wirtschaft, so mag das etwas übertrieben sein, doch für uns als gläubige Christen kann dies einmal der Anlass sein, uns ein paar Entwicklungen in der Wirtschaft bewusst zu machen, die sicherlich auch nicht spurlos an unserem Denken vorübergezogen sind.
Während jahrhundertelang der Kauf von Produkten aller Art primär dazu gedient hatte, die Bedürfnisse des Lebens zu stillen, entwickelte sich seit der Industrialisierung ein völlig neuer Gesichtspunkt, der im Laufe der Zeit stets breiteren Raum einnahm: Es wurde nicht mehr produziert, um Mängel und Bedürfnisse zu stillen, sondern es wurden Produkte hergestellt, für die es erst Bedürfnisse zu wecken galt.
Der Wirtschaftshistoriker Peter Borscheid fasst zusammen: „In der Welt des Alten Handwerks hatte es noch keine kapitalintensive Modernisierung gegeben und kein Streben nach Produktivitätssteigerung, kaum Dynamik und selten Gewinnmaximierung zu Lasten anderer. Mentalität und Handel der Handwerker waren vom Ehrbarkeitsethos der Zunft geprägt gewesen, von überkommener Sitte und korporativem Zusammenhalt. Ehrgeiz und Mehr-Wollen, Unruhe und Neuerung waren im Interesse von harmonischer Solidarität, die allein Sicherheit versprach, verpönt gewesen. Den Moralvorstellungen der Handwerker war Leistungsmotivation, Gewinnstreben und Wettbewerb anstößig“ (Bilderwelt des Alltags: Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 20).
Die Reformation hatte den Menschen ihre persönliche Verantwortung Gott gegenüber wieder neu bewusst gemacht. Durch dieses Gedankengut geprägt, herrschte die Vorstellung, dass man durch Werbung für das eigene Geschäft den anderen in den Ruin treiben könne. Deshalb war die Werbung verpönt. Da das Ethos der Handwerker auf den Idealen des Christentums basierte, wurde der Zusammenhalt angestrebt und das Gegeneinander-Vorgehen, sei es auch nur zum Zweck des Kundenfangs, weitgehend abgelehnt. Je mehr dann das Gedankengut der Reformation abhanden kam und die Ideen der Aufklärung Einzug hielten, desto mehr stellten Produzenten und Handwerker das eigene Können in den Vordergrund. Das aufklärerische Postulat, sich das Paradies schon auf Erden zu schaffen, verdrängte die christliche Wirtschaftsethik zusehends.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund die heutigen Praktiken in der Wirtschaft, so kann man feststellen: Je mehr die Maßstäbe der Bibel in der Gesellschaft schwanden, desto rigoroser und egoistischer wurden die Methoden. Nebenbei bemerkt, manifestiert sich diese Entwicklung auch in der Werbung (in Anzeigen).
Selbst christliche Firmen begnügen sich in Stellenanzeigen nicht mehr damit, ihr Unternehmen vorzustellen und die ausgewiesene Stelle und das Qualifikationsprofil zu erläutern, sondern sie ergehen sich im Lob über die eigene Spitzenklasse, möchten entsprechend nur Leute einstellen, die „erstklassig“, „hervorragend“ usw. sind, und stellen die Mitarbeit in ihrem Unternehmen als das nahezu einzige begehrenswerte Ziel auf Erden dar.
Das Problem unserer Tage ist also, dass eigentlich viele noch wissen (müssten), was richtig und was falsch ist, dass man lauteres Verhalten zwar von anderen erwartet, man selbst aber nicht mehr bereit ist, es auszuleben.
Die Gläubigen sollte im täglichen Umgang das Prinzip Wahrheit kennzeichnen (vgl. Eph 4,21-25). Schlimm wäre es, wenn der Herr uns die gleichen Vorwürfe machen müsste wie Ephraim und Israel: „Mit Lüge hat Ephraim mich umringt, und das Haus Israel mit Trug ... Ein Kaufmann ist er; in seiner Hand ist eine Waage des Betrugs, er liebt zu übervorteilen. Und Ephraim spricht: Ich bin doch reich geworden, habe mir Vermögen erworben; in all meinem Erwerb wird man mir keine Ungerechtigkeit nachweisen, welche Sünde wäre ...“ (Hos 12,1.8.9).
Bedenken wir also (und das nicht nur in Bezug auf die Wirtschaftsethik): „Die Wege des HERRN sind gerade, und die Gerechten werden darauf wandeln; die Abtrünnigen aber werden darauf fallen“ (Hos 14,9).
Jochen Klein
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