denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Sebastian und Tim suchen nach „Liebe“

„Wie kannst du sagen: Ich habe dich lieb, so doch dein Herz nicht mit mir ist?“

(Richter 16,15)

 

„Die Tür flog auf, und herein kam Tim. „Was hörst du denn da für’n Zeug“, fragte er seinen Freund Se­bastian, der auf dem Bett lag und las.

Dieser entgegnete: „Ich habe nur gerade die Nach­richten gehört; dann war ich zu faul aufzustehen und das Radio auszuschalten“.

„Das kann ja jeder sagen“, erwiderte Tim. „Aber ernsthaft: Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was die da die ganze Zeit singen?“

„Nein, warum?“

„Ich komme darauf, weil mir vor kurzem aufgefallen ist, daß viele Lieder von Liebe und Beziehungen han­deln, aber irgendwie komisch.“

„Da magst du ja recht haben, aber ich höre, wie ge­sagt, sowas sonst nicht.“

Sebastian legte sein Buch zur Seite, stand mit einem Schwung auf und meinte: „Liebe, was ist denn das überhaupt?“

„Soll das ein Witz sein?“ staunte Tim.

„Dann sag’s doch, wenn du’s weißt“, gab Sebastian zurück.

„Hm, na gut. Hast gewonnen. Ich weiß es auch nicht“, gestand Tim nach kurzem Nachdenken ein.

Darauf machte Sebastian folgenden Vorschlag: „Weißt du was? Wir schauen jetzt mal nach, was die Bibel dazu sagt.“

„Wie willst du das denn machen?“ entgegnete Tim. „Mir fallen dazu nicht besonders viele Stellen ein.“

„Dafür gibt es eine Bibelkonkordanz. Dort suchen wir uns zuerst Stellen unter dem Stichwort Liebe. Wenn wir die für uns wichtigen Verse herausge­schrieben haben, schlagen wir mal im Bibellexikon nach. Ich habe ein neues. Kostet nur 150 Mark.“

„Was, nur! Dafür kriege ich ja Inline-SkatesA, wun­derte sich Tim.

„Erstens darfst du nicht immer alles in Sportartikel umrechnen, und zweitens kostete dieses Lexikon früher gebunden 350 Mark.“

„Hast mich überzeugt, 150 ist also günstig; aber jetzt zur Sache!“

Da Sebastian ein Konkordanzprogramm im Compu­ter hatte, setzten sie sich an den Schreibtisch. Nach­dem sie die Verse mit dem Begriff „Liebe“ zu Ende durchgesehen hatten, schauten sie noch unter Syn­onymen nach – also Worten mit gleicher oder ähnli­cher Bedeutung –, die für dieses Thema wichtig sein könnten, und schrieben dann die ausgewählten Stel­len zur besseren Übersicht auf einen Zettel.

„Das war bisher sicherlich nützlich, aber eigentlich wissen wir jetzt noch nicht viel mehr als vorher. Au­ßerdem ist es schon spät, und ich muß gleich nach Hause“, sagte Tim, nachdem sie die Suche abge­schlossen hatten.

„Du hast recht“, entgegnete sein Freund. „Ich würde vorschlagen, jeder von uns sucht sich bis morgen abend ein paar Begebenheiten in der Bibel, wo etwas über Beziehungen zwischen Menschen gesagt wird; dann kommst du wieder, und wir sehen weiter.“

Am nächsten Abend brachte Tim Wolf mit. Nach­dem sie sich gesetzt hatten, erläuterte Sebastian ihm kurz das, was sie taten und wie es dazu gekommen war; dann holte Tim seine Notizen hervor und be­gann ohne große Umschweife: „Also, mir ist da ein Gedanke gekommen: In Richter 16 wirft Delila Sim­son vor:  'Wie kannst du sagen: Ich habe dich lieb, so doch dein Herz nicht mit mir ist? Nun dreimal hast du mich getäuscht und mir nicht kundgetan, worin deine große Stärke besteht' V. 15). – Ich fand hier folgendes interessant: Obwohl sie eine raffinierte Frau ist und Simsons Geheimnis seiner Stärke an die Philister verraten will, wirft sie ihm Unaufrichtigkeit vor.“

„Das ist wirklich interessant“, bemerkte Wolf. „Selbst Delila scheint zu wissen, daß zur Liebe ein aufrichtiges Herz gehört.“

„Wo du gerade 'aufrichtiges Herz' sagst, fällt mir Boas ein“, sagte Sebastian, während er in seinen Aufzeichnungen blätterte. „Als er auf dem Feld mit Ruth gesprochen hatte, antwortete diese: 'Du hast mich getröstet und hast zum Herzen deiner Magd geredet' (Rt 2,13). – Ich habe lange überlegt, warum sie das so formulieren konnte. Er hatte meiner Mei­nung nach nämlich nichts ausdrücklich gesagt, was sie zu dieser Aussage hätte bewegen können, son­dern sich eigentlich nur um sie gekümmert. Als ich dann im Bibellexikon gelesen habe, fiel mir ein Satz besonders auf, der Ruths Aussage für mich verständ­licher machte: 'Liebe ist im biblischen Sinn nicht zuerst Gefühl, sondern tätiger Wille und hingebende Treue. Liebe ist ein Tun. Deshalb kann solche Liebe geboten werden'“ (vgl. Joh. 13,34; 15,12.17).

„Diese Gesinnung wird doch, wie ich finde, in Lukas 10 besonders deutlich“, meinte Tim. „Dort erzählt der Herr Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Sa­mariter. Danach fragt er den Gesetzgelehrten, der, um sich selbst zu recht­fertigen, behauptet hatte, nicht zu wissen, wer sein Nächster sei: 'Wer von diesen dreien dünkt dich der Nächste gewesen zu sein von dem, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barm­herzigkeit an ihm tat. Jesus aber sprach zu ihm: Gehe hin und tue du desgleichen' (V. 36.37).

Jetzt wußte dieser Mann, wer sein Nächster war, und er hatte keinen Vorwand mehr, das nicht zu verwirk­lichen, was er vorher zitiert und nur scheinbar nicht verstanden hatte: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstande, und deinen Nächsten wie dich selbst' (Lk 10,27).

Mir fiel diese Begebenheit heute morgen ein. Des­halb habe ich sie mir aufgeschrieben. Was meint ihr dazu?“

„Ich finde es interessant, daß sich hier wieder jemand um den anderen kümmert“, sagte Wolf.

„Und noch mehr“, meinte Sebastian. „Dieses 'Küm­mern' darf nicht nur Selbstzweck sein. Ihm muß eine andere Motivation zugrundeliegen. Boas drückte es Ruth gegenüber folgendermaßen aus – Moment, wo hab' ich denn den Zettel –; hier steht also: 'Der HERR vergelte dir dein Tun, und voll sei dein Lohn von dem HERRN, dem Gott Israels, unter dessen Flügeln Zuflucht zu suchen du gekommen bist' (Rt 2,12). Die Liebe zum Herrn sollte also die Grundlage für unser Handeln – auch in bezug auf andere – sein. Das wird besonders in dem Zitat aus dem Gesetz, das Tim eben vorgelesen hat, deutlich.“

„Wollen wir dazu nicht mal ein paar Verse aus Jo­hannes 21 lesen, wo der Herr Jesus mit Petrus re­det?“ fragte Wolf.

„Klar, lies doch mal vor“, meinte Tim.

Wolf begann: „'Als sie nun gefrühstückt hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn Jonas', liebst du mich mehr als diese? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: Weide meine Lämmlein. Wiederum spricht er zum zweiten Male zu ihm: Simon, Sohn Jonas=, liebst du mich? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: Hüte meine Schafe. Er spricht zum dritten Male zu ihm: Simon, Sohn Jonas', hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, daß er zum dritten Male zu ihm sagte: Hast du mich lieb? und sprach zu ihm: Herr, du weißt alles; du erkennst, daß ich dich lieb habe. Jesus spricht zu ihm: Weide meine Schafe' (Joh 21,15-17).“

„Mir fällt auf“, bemerkte Sebastian, „daß der Herr, nachdem er sich jedesmal neu der Liebe des Petrus versichert hat, seinen Auftrag an ihn erweitert“.

„Das ist aber noch nicht alles“, warf Wolf ein. „Ein paar Verse weiter steht, daß der Herr Jesus Petrus auffordert, ihm nachzufolgen. Nach diesem persönli­chen Auftrag hat Petrus aber nichts Besseres zu tun, als auf einen anderen Jünger, nämlich Johannes, zu schauen und zu fragen: 'Herr, was soll aber dieser?' (V. 21). Die Antwort des Herrn ist unmißverständ­lich: 'Wenn ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach' (V. 22). Dies zeigt, daß es bei unserem Kümmern um andere Grenzen gibt. Sie werden dann überschritten, wenn wir zuviel über deren Beziehung zum Herrn reflek­tieren und dabei unsere eigenen Aufgaben vergessen oder vernachlässigen. Dann gilt das Wort: 'Folge du mir nach'.“

„Daß Liebe sich im Handeln, in der persönlichen Nachfolge des Herrn zeigt, verdeutlicht auch ein Satz aus dem Bibellexikon“, sagte Sebastian und las vor: „'Liebe meint biblisch nie nur einen emotionalen Bereich; die christliche Liebe geht vom Willen aus und wird gelebt im Tun. Dabei ist das Tun ein Leben im Gehorsam gegenüber dem biblischen Wort. Jesus zu lieben heißt, seine Gebote zu halten (vgl. Joh 14,15).'“

„Schön und gut“, entgegnete Wolf, „aber wie schaffe ich es denn, den Herrn oder andere zu lieben?“

„Dazu hatten wir gestern schon eine Bibelstelle ge­funden“, erwiderte Tim. „In Galater 5,22 steht, daß die Liebe die Frucht des Heiligen Geistes ist.“

„Wir hatten auch 1. Korinther 13,1-3 notiert“, sagte Sebastian. „Dort wird deutlich, daß im Vergleich zur Liebe alle anderen Gaben nichts sind. – Ich denke da gerade wieder an Boas. Wenn er alle Register seiner Beredsamkeit gezogen hätte, wäre dies – ohne Liebe – nutzlos gewesen.

Zu Vers 1 habe ich mir auch noch was aufgeschrie­ben, aber zuerst möchte ich den Vers einmal lesen: 'Wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tö­nendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel' (1. Kor 13,1). Das heißt meiner Meinung nach fol­gendes: Das tönende Erz und die schallende Zimbel geben zwar einen Ton ab, doch dessen Bedeutung kann der Hörer nicht verstehen, wenn sie nicht vor­her festgelegt wurde (z.B. drei Schläge = zum Essen kommen). Wenn Menschen mit ihren Mitmenschen gleichgültig, lieblos oder sogar respektlos umgehen, werden alle Bemühungen, den Nächsten zu errei­chen, bestenfalls den gleichen Effekt haben wie die Klänge einer Zimbel, die willkürlich geschlagen wird: Die Botschaft wird zwar gehört, aber sie kommt nicht an.“

„Das gibt mir sehr zu denken“, sagte Wolf. „Dabei fällt mir ein: Kürzlich haben wir uns doch in der Ju­gendstunde über Jesaja 29,13.14 unterhalten. Viel­leicht lese ich die Stelle noch mal vor: 'Und der Herr hat gesprochen: Weil dieses Volk mit seinem Munde sich naht und mit seinen Lippen mich ehrt und sein Herz fern von mir hält und ihre Furcht vor mir ange­lerntes Menschengebot ist: darum, siehe, will ich fortan wunderbar mit diesem Volke handeln, wun­derbar und wundersam; und die Weisheit seiner Wei­sen wird zunichte werden, und der Verstand seiner Verständigen sich verbergen'.

Als Tim vorhin den Vorwurf Delilas an Simson vor­gelesen hat, fiel mir diese Stelle wieder ein. Der Ta­del des Herrn an Israel ließe sich auch so umschrei­ben: 'Wie kannst du sagen: Ich habe dich lieb, so doch dein Herz nicht mit mir ist?'“

„Wenn ich über das alles so nachdenke“, sagte Seba­stian, „dann könnte man es vielleicht so zusammen­fassen: Alle Bemühungen um einen anderen sind ohne Liebe nutzlos. Die Grundlage dafür ist die Lie­be zum Herrn sowie ein aufrichtiges Herz. Wenn allerdings unser Verhältnis zu Ihm nur 'erlerntes Menschengebot' ist, wird es uns schließlich wie der Zimbel oder auch wie Simson gehen: Entweder ver­steht uns niemand mehr, oder man glaubt uns unsere Botschaft nicht.“

„Eines aber müssen wir bedenken“, warf Tim ein. „Paulus schreibt im zweiten Brief an Timotheus – seinem letzten überhaupt –: 'Befleißige dich, bald zu mir zu kommen; denn Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat, und ist nach Thessalonich gegangen' (2. Tim 4,9.10). – Ein besseres Vorbild oder einen besseren Lehrer als Pau­lus hätte Demas kaum haben können. Trotzdem ver­ließ er ihn. Dies zeigt doch, daß Christentum letzten Endes eine persönliche Sache ist.“

„Paulus drückt das woanders so aus“, erwiderte Se­bastian: „'Dies aber sage ich: Wer sparsam sät, wird auch sparsam ernten, und wer segensreich sät, wird auch segensreich ernten. Ein jeder, wie er sich in seinem Herzen vorsetzt: nicht mit Verdruß oder aus Zwang, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb'“ (2. Kor 9,6.7).

„'Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.' – Das war ein schöner SchlußsatzA, meinte Tim. Dann stellten sie übereinstimmend fest, daß die gemeinsame Un­tersuchung eines Themas anhand der Bibel sehr in­teressant und von großem Nutzen ist. Wolf drückte das aus, was alle empfanden: „Das war wirklich ein schöner Abend. Sowas sollten wir öfters machen“. Dann sagte er: „Jetzt hören wir noch den Wetterbe­richt. Vielleicht können wir bald wieder eine Mountainbike-Tour machen.“

„Wenn du nach den Nachrichten das Radio an läßt, dann weißt du ja diesmal, worauf du zu achten hast“, sagte Tim zu Sebastian und lachte.

Jochen Klein

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