denkend glauben

Jochen Klein

Texte und Materialien zum christlichen Glauben

Johann Heinrich Jung-Stilling

Hätte er lieber still sein sollen, da er ja noch so jung war? Er war nicht still und wies – neunjährig – den Ortspfarrer einfach auf Römer 1,19.20 hin: Von Gott kann man etwas wissen, denn er hat sich offenbart. Zeitlebens war Jung-Stilling davon überzeugt, daß Gott Gläubigen seinen Willen offenbart und sie im täglichen Leben führt. Um selbst Zeugnis von der Führung Gottes abzulegen, schrieb er eine sechsbän­dige Autobiographie mit dem Titel Lebensgeschichte für die, deren „Glaubensgrund in der Religion schwankte“.

Auf den kleinen Jungen hätte der Beiname Stilling (vgl. Psalm 35,20), den er sich als Schriftsteller zuleg­te, genausowenig gepaßt, wie er auf den erwachsenen Mann paßte; denn still war er selten. Er führte sein Leben lang eine rege Korrespondenz, hatte stets das Ziel, anderen von seinem Glauben mitzuteilen, und hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk.

Die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jungs begann am 12. September 1740 in dem Dorf Grund bei Hil­chenbach, das heute zum Kreis Siegen-Wittgenstein gehört. Er wurde als einziges Kind des Flickschusters, Schullehrers und Feldmessers Helman Jung und sei­ner Frau Johanna Dorothea Katharina geboren. Seine Familie zählte sich zu den „Einfachen, Genügsamen, den schlichten kleinen Leuten im Lande“, schreibt ein Biograph.

Das gemeinsame Leben mit seinen Eltern im großvä­terlichen Haus endete keine zwei Jahre später, als sei­ne Mutter starb. Der kleine Heinrich wurde nun vor­wiegend von den Großeltern und einigen Tanten auf­gezogen, wobei der Großvater einen nachhaltigen Einfluß auf sein geistliches Leben ausübte. Schon in seiner frühen Kindheit waren für Heinrich intensive Bibellektüre und Gebet selbstverständlich. Wenn er von jemandem reden hörte oder las, interessierte ihn zuerst dessen Gesinnung gegen Gott und das Chri­stentum.

In seiner Jugend besuchte Johann Heinrich die Dorf­schule in Grund und die Lateinschule in Hilchenbach. Er half in der Landwirtschaft, beim Schneidern sowie beim Kohlenbrennen und übernahm mit 15 Jahren in Lützel seine erste von fünf Schulmeisterstellen. 1762 nahm er Abschied vom Elternhaus und fand als Schneidergeselle in Solingen und Radevormwald Auf­nahme, bevor er in Hückeswagen und dann in Kräh­winklerbrück bei Remscheid Hauslehrer wurde. In Krähwinklerbrück betraute ihn der Gutsbesitzer, Kaufmann und Fabrikant Peter Johann Flender nicht nur mit der Unterrichtung seiner Kinder, sondern auch mit der Verwaltung seiner Güter und Hammerwerke. Außerdem fand Jung-Stilling hier noch Zeit, Grie­chisch, Hebräisch und Französisch zu lernen, und er wurde von Flender dazu ermutigt, sich mit Medizin zu beschäftigen. 1768 lernte er einen Mann namens Mo­litor kennen, der als erfolgreicher Augenarzt bekannt war. Er lehrte Jung-Stilling die Kunst der Staropera­tion, die dieser dann bis zu seinem Tode ausübte, wo­durch er vielen Armen kostenlos das Augenlicht wie­dergab und im In- und Ausland weithin bekannt wur­de. Flender riet ihm nun zum Medizinstudium, das er auch 1770 in Straßburg aufnahm. Dort traf er Goethe, Herder und Lenz. Durch die Vorherrschaft der Auf­klärung in Europa war Jung-Stillings Denken beson­ders angefochten, da konsequenter Bibelglaube und rationale Weltanschauung einander gegenüberstan­den. Obwohl Goethe urteilte: „Sein Glaube duldet keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott“, vermerkt Jung-Stilling doch in seiner Lebens­geschichte über sich selbst: „In dem Kreis, worinnen sich Stilling jetzt befand, hatte er täglich Versuchun­gen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hörte alle Tage neue Gründe gegen die Bibel, gegen Chri­stenthum, und gegen die Grundsätze der christlichen Religion.“ Dies trug mit dazu bei, daß er zwischen­zeitlich Schwierigkeiten mit dem Glauben hatte und später in Kaiserslautern sogar den Freimaurern beitrat. Nach dieser Lebensphase nahm er aber den Kampf gegen die aufklärerischen, bibelkritischen Positionen wieder auf und versuchte Mitkämpfer zu finden, um „dem grund- und bodenlosen Verderben unserer Zeit Dämme entgegenzusezen“.

Jung-Stilling verstand seinen Lebenslauf grundsätz­lich als von Gott geleitet und an Gott gebunden, und zwar nicht nur im großen und ganzen, sondern bis in die Einzelheiten hinein. Das Gebot „wachet und be­tet“ (vgl. Lk 22,46) gehörte ebenso zu seinen Lebens­maximen wie „der Herr wird=s versehen“ (vgl. 1. Mo 22,8). So schreibt er in seiner Lebensgeschichte: „Willst du den wahren Weg gehen, so zeichne dich durch nichts aus, als durch ein reines Leben und edle Handlungen; bekenne Jesum Christum durch eine treue Nachfolge seiner Lehre und seines Lebens ... Traue ihm in jeder Lage deiner Schicksale, und bete zu ihm mit Zuversicht, er wird dich gewiß zum erha­benen Ziel führen.“

Im Frühjahr 1772 promovierte Johann Heinrich Jung nach einem Studium von nur drei Semestern mit einer in lateinischer Sprache geschriebenen Doktorarbeit über die Geschichte des Siegerländer Eisengewerbes zum Dr. med. Im Juni 1771 hatte er die Kaufmanns­tochter Christine Heyder geheiratet. Am 1. Mai 1772 eröffnete er eine Arztpraxis in Elberfeld. Verschiedene wissenschaftliche Abhandlungen über Berg-, Hütten- und Kommerzienwesen sowie über Land- und Forst­wirtschaft, die er für die „Kurpfälzische Physikalisch-Ökonomische Gesellschaft“ schrieb, veranlaßten den kurpfälzischen Hofrat, Jung-Stilling als Professor der Landwirtschaft, Technologie und Vieharzneikunde an die Kameralhochschule nach Kaiserslautern zu beru­fen, wo er 1778-84 wirkte. Hier starb im Oktober 1781 seine Ehefrau nach langer Krankheit. Zehn Mo­nate später heiratete Jung-Stilling Selma von St. Geor­ge. 1784 zog er nach Heidelberg, wohin die Hoch­schule verlegt worden war und wo man ihm den Titel „Kurpfälzischer Hofrat“ verlieh. Anfang 1787 wurde er als Professor nach Marburg berufen. Hier blieb er bis 1803, veröffentlichte – wie schon in Kaiserslau­tern – mehrere wirtschaftswissenschaftliche Lehrbü­cher und wurde Mitbegründer des Staatswissenschaft­lichen Instituts. Nachdem am 23. Mai 1790 seine zweite Ehefrau Selma gestorben war, heiratete er ein halbes Jahr später Elise Coing. 1803 bot der Kurfürst Karl Friedrich von Baden, der seit längerer Zeit mit Jung-Stilling korrespondiert hatte, diesem eine Stelle als religiöser Volksschriftsteller, Briefseelsorger und fürstlicher Berater an. Stilling schrieb an ihn: „Der Herr hat wahre Wunder der Gnade an mir getan: Von Geburt zum Bauern- und Handwerksstand bestimmt, führt er mich ohne irdisches Vermögen einen zwar sehr schweren und langwierigen Prüfungsgang; ... aber erst am Schluß meines 63sten Lebensjahrs, nach­dem er mich durch viele Umwege geläutert und durch viele und mancherley Erfahrungen unterrichtet hat, lenckt Er so gnädig das Herz Ew. Kurf. Durchlaucht dahin, mich nun auf den Standpunct zu stellen, wozu ich von der Wiegen an und allen meinen inneren An­lagen bestimmt bin.“

Daß Jung-Stilling bei seinen großen Erfolgen an ver­schiedenen Orten immer wieder Opfer von Intrigen wurde, wird niemand verwundern. Neider gab es über­all. Auch litt er fast immer unter Geldmangel, und von seinen 13 Kindern starben die meisten früh. Als wie­der einmal Schwierigkeiten an ihm vorübergezogen waren, notierte er über sich: „Ohne dies hätte er gewiß Gefahr gelaufen, sich durch alle Lobeserhebungen und Ehrenbezeigungen zu versteigen, und einen schrecklichen Fall zu thun.“

Zwei Marburger Wirtschaftswissenschaftler beurteil­ten ihn anläßlich seines 250. Geburtstages 1990 fol­gendermaßen: „Jung-Stilling ist ohne Zweifel eine der markantesten Persönlichkeiten und einer der berühm­testen Hochschullehrer, die an der Philipps-Universi­tät gelehrt haben. Kaum ein anderer Hochschullehrer hat über sein eigentliches Lehrgebiet hinaus so viel Bedeutendes geleistet wie Jung-Stilling.“ Über sich selbst schreibt dieser: „Der große Richter wird der­einst seine Fehler auf die eine, und sein weniges Gute, auf die andre goldne Waagschale des Heiligthums legen; was hier mangelt, o Erbarmer! das wird deine ewige Liebe ersetzen!“

Am 10. September 1803 nahm er Abschied von Mar­burg, um in Heidelberg seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller nachzugehen. Seinem Landesherrn ver­sicherte er, von nun an „als ein Zeuge der Wahrheit für Jesum Christum, seine Religion und sein Reich zu wirken“. Ein Forscher schreibt: „Nebensächliches an seiner Person fiel in diesen Jahren ohnehin immer mehr von ihm ab; sein Glaube und sein Bekenntnis hingegen traten immer stärker hervor. Auf diese Wei­se hat er auch in seinen Altersjahren auf die verschie­densten Zeitgenossen, nahe und fern wohnende, jün­gere und ältere, einfache und vornehme, tief beein­druckend eingewirkt.“

1806 siedelte er zu seinem Gönner ins großherzogli­che Schloß nach Karlsruhe um, wo er 1808 zum „Ge­heimen HofratA ernannt wurde. Nach dem Tod des Großherzogs zog er 1811 mit seiner Familie in eine Mietwohnung. 1814 kam es noch zu einem Gespräch mit Zar Alexander I. im Bruchsaler Schloß.

„Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schat­tenbilder an der Wand vor meiner Seele vorüber“, schrieb er 1816, 76jährig, als seine Kräfte immer mehr schwanden, „und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feyerliches Bild, das aber mit einem Schleyer bedeckt ist, den ich erst lüften werde, wenn meine Hülle im Grabe ruht, und der Auferstehung entgegen reift.“ – „Nie werde ich auch vergessen“, so der Schwiegersohn über Jung-Stilling und seine Frau,  „wie sich beide über diesen gemeinsamen Übergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiterkeit, womit sie darüber sprachen, wie sie wohl sonst von einer vorgenommenen Reise redeten ... die lieben El­tern freuten sich auf diese Reise.“ Am 22. März 1817 trat Ehefrau Elise die „Reise“ an. Elf Tage später folgte Jung-Stilling in Gegenwart seiner versammelten Familie. Das, was er in einem seiner Bücher geschrie­ben hatte, war Wahrheit geworden: „Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“

Jochen Klein

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