Einleitung
Karl Marx sei der umstrittenste und wirksamste deutsche Denker der Neuzeit, meint der Politikwissenschaftler Karl Euchner. Thomas Schirrmacher bezeichnet ihn als „meistgelesenen politischen Autor der Geschichte“. Marx’ bekanntester Satz dürfte sein: Religion sei „das Opium des Volkes“. Lenin änderte diesen Satz später in „Religion ist Opium für das Volk“. Ein ehemaliger Marxist schrieb 1986: Der Marxismus „ist eine Religion, aber er ist eine Religion, in der die Verheißung nicht in der nächsten, sondern in dieser Welt liegt. Wenn man sich dann anschaut, was die Radikalen tun und was tatsächlich zu berichten ist, kann man feststellen, dass sie im Namen eines zukünftigen Paradieses die Hölle auf Erden schaffen“.[1]
Betrachtet man die vielen Millionen Toten, die dem Marxismus-Leninismus und seinen Nachfahren zum Opfer fielen, so mag man sich wundern, dass Auswüchse dieser Philosophie heute noch massiven Einfluss in der Gesellschaft haben. Gegenwärtig zeigt sich dies in westlichen Gesellschaften z.B. so, dass in der Öffentlichkeit versucht wird, andere Positionen auszugrenzen, zu unterdrücken oder mundtot zu machen – so auch biblisch-christliche. Dieses Phänomen ist grundsätzlich zwar nicht neu, sondern schon seit Beginn der Menschheit festzustellen, aber dass z.B. Christen an manchen Universitäten keine Möglichkeit mehr haben, Veranstaltungen zu organisieren, ist eine bedenkliche Entwicklung jüngerer Zeit. Und dass Pfarrer, wenn sie öffentlich biblische Positionen vertreten, deswegen zum Teil ihre Anstellung verlieren, ist fast verkehrte Welt. Dagegen hat man sich schon daran gewöhnt, dass biblische Positionen in Talkshows u.Ä. keine Rolle spielen. Eine Ursache für all dies liegt darin, dass sich besonders in den westlichen Industrienationen die neomarxistische Haltung und Denkweise breitmacht, die zunehmend auch biblisch-christliche Positionen (die Jahrhunderte galten) bedroht oder zum Schweigen zu bringen versucht.
Dadurch ist auch die Ausrichtung dieses Artikels bestimmt. Wenn es hier vorwiegend um die Gefahr des linken Mainstreams geht, dann nicht, weil rechte Bewegungen weniger problematisch sein können. In Medien, Schulen usw. wird deren Gefahr jedoch sehr intensiv reflektiert, während die des linken Mainstreams fast nicht thematisiert wird und dessen Positionen in der Regel als gut, vorteilhaft oder legitim dargestellt werden, als Positionen der Freiheit, Vielfalt und Toleranz – obwohl sie in der Sache oft nicht weniger problematisch sind als anders geartete gottlose politische Richtungen.
So ist es m.E. an der Zeit, Geschichte, Problematik und Konsequenzen des linken Denkens einmal kurz zu skizzieren. Dabei möchte ich mich weitgehend auf den Neomarxismus beschränken, der heute in der westlichen Kultur am relevantesten ist. Zur weiteren Beschäftigung eignen sich unten genannte Veröffentlichungen; weitere Literaturhinweise können gerne bei mir erfragt werden.
Wesentliche Voraussetzung für die Utopie des Neomarxismus ist die Theorie, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Man müsse ihn deshalb nur von seinen zivilisatorischen und überkommenen moralischen Fesseln befreien, um zu einer positiven Gesellschaft zu gelangen. Das Postulat, der Mensch sei erst durch Zivilisation, bürgerliche Gesellschaft und christliche Moralvorstellungen verdorben worden, geht in der Neuzeit prägend von dem französischen Aufklärungsphilosophen Jean-Jacques Rousseau aus. Das Ziel dieser Bewegung für heute ist der „befreite“ Mensch, der von Natur aus gut ist, friedfertig, sexuell freizügig und fähig, sich harmonisch in die neue Gesellschaft einzuordnen. Diese Neue-Mensch-Vorstellung bildet die Grundlage der neuen Gesellschaftsutopie.
Um das Menschenbild des Neomarxismus zu verstehen, muss auch noch die Verschmelzung von marxistischer Philosophie und Psychoanalyse erwähnt werden. Federführend dabei waren die Psychoanalytiker Wilhelm Reich und Erich Fromm. Eine essenzielle Lehre heißt, dass Triebunterdrückung für die meisten Übel auf der Welt verantwortlich sei. Hier bezieht man sich direkt auf Freud,[2] der dabei aber etwas umgedeutet wird.
Die Geringschätzung der Familie als „veraltetes Lebensmodell“, die Demontage des Christentums oder der Angriff auf den Nationalstaat sind nicht ganz neu. Diese tragenden Säulen der westlichen Kultur galten auch schon Marx und Engels als Hindernisse auf dem Weg in eine kommunistische Gesellschaft. Die Hauptvertreter der sog. Frankfurter Schule übernahmen diese Position: Tragende Säulen der europäischen Kultur sollten unterminiert und eingerissen werden.
Die Geschichte dieses einflussreichen Instituts, das auf gesellschaftliche Entwicklungen enormen Einfluss hatte, begann 1924 mit seiner Gründung als „Institut für Sozialforschung“ an der Universität Frankfurt. Sein erster Leiter, Carl Grünberg, etablierte hier erfolgreich den Marxismus als eine neben anderen anerkannten wissenschaftlichen Richtungen. 1930 wurde Max Horkheimer Ordinarius für Sozialphilosophie und Direktor des Instituts. Wegen des zunehmenden Einflusses der Nationalsozialisten siedelte das Institut 1934 nach New York über. So konnten die Ideen der Frankfurter Schule auch in den USA ihre Wirkung entfalten. Weitere damit verbundene zentrale Namen sind Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Erich Fromm und Herbert Marcuse.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Institut mit Hilfe der Amerikaner 1951 in Frankfurt wiedereröffnet. Horkheimer wurde erneut Direktor. Von 1983 bis 1994 war der Name des Philosophen Jürgen Habermas damit verbunden, außerdem Alfred Schmidt und Oskar Negt. Diese gehörten somit zur zweiten Generation.
Die Frankfurter Schule entwickelte die „Kritische Theorie“. Horkheimer erkannte, dass die „Arbeiterklasse“ als Trägerin einer Revolution nicht mehr in Frage komme und der Marxismus neu definiert werden müsse, und zwar in kulturellen Begriffen als „Neomarxismus“, später auch als „Kulturmarxismus“ oder „anthropologische Revolution“ bezeichnet. Dem christlichen Sozialphilosophen Günter Rohrmoser zufolge bestand die wesentliche Revision, die die Frankfurter Schule am klassischen Marxismus vornahm, in einer veränderten Einschätzung des Phänomens Kultur. Für Marx habe es nämlich keine Motivation gegeben, sich mit der Kultur als eigenständigem Phänomen auseinanderzusetzen, da er davon ausgegangen sei, dass sich diese an die sozioökonomischen Verhältnisse anpasse.
Aus marxistischer Sicht war das Irritierende an der Machtergreifung Hitlers, dass sich die Proletarier entgegen ihren eigenen angeblichen Interessen für den Faschismus entschieden. Laut der Frankfurter Schule könne dies nur mit Blick auf die Kultur verständlich werden. Familie, Kirche und Moral hätten demnach damals die Funktion erfüllt, die Menschen in Übereinstimmung mit den negativen Normen, Werten und Verhaltensmustern der Nationalsozialisten zu sozialisieren.
Von diesen Aspekten hänge generell der Bestand einer Gesellschaft ab. Menschen würden zur Anerkennung von Autorität und herrschenden Werten und Normen erzogen, sodass diese verinnerlicht würden. Kultur sei somit entweder Kitt oder Sprengstoff der Gesellschaft. Wegen ihrer angeblich negativen Rolle im Nationalsozialismus sind deshalb Autorität und Familie zwei wesentliche Angriffspunkte des Neomarxismus. Rohrmoser bemerkt hierzu: „Wenn man alle ideologischen und theoretischen Anstrengungen der Frankfurter Schule unter einer Intention subsumieren wollte, müsste man festhalten, dass es im Wesentlichen um zwei Vorgänge geht, nämlich um die Aufdeckung der Unlegitimiertheit und Unbegründetheit und des irrationalen Charakters der faktischen Autoritäten und von hierher um das Ziel, die Autorität als solche als gesellschaftliche, soziale Institution zu zerstören.“[3]
Die Entwicklung der studentischen Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre, die in der Studentenrevolution von 1968[4] ihren Höhepunkt fand, zeigte dann, dass die Institution der Autorität ganz allgemein dem Angriff der Neomarxisten in vielen Bereichen nicht standhielt. Die Kulturrevolution war also ihrem Ziel entsprechend recht erfolgreich. Bedeutsam dabei ist, dass die Frankfurter Schule diesen Erfolg nicht als Sieg des Marxismus, sondern als Vollendung der Aufklärung[5] deklarierte. Mit diesem Kunstgriff konnte sich die Theorie der Frankfurter Schule als Fortsetzung einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft präsentieren. Das ist mit ein Grund dafür, warum die Kulturrevolution in der Folge gerade im bürgerlichen Milieu erfolgreich war und ihre Ideen schließlich auch in (ehemals) bürgerlichen Parteien Fuß fassen konnten und zunehmend können.
Die klassische Linke sah in der Arbeiterklasse das entscheidende Subjekt. Die „Neue Linke“, eine Sammelbezeichnung für verschiedene linke Bewegungen ab Mitte der 1960er Jahre, grenzte sich sowohl von der etablierten Sozialdemokratie als auch vom Marxismus-Leninismus ab und wurde stark von der Frankfurter Schule beeinflusst. Ein Teil der radikalen Linken gründete 1970 die „Rote Armee Fraktion“ (RAF), die eine gewaltsame Veränderung der Gesellschaft anstrebte. Ihre Anschläge auf Immobilien oder Sachen stießen bei einem Teil der Linken auf Sympathie, während ihre Morde auch die meisten Linken abschreckten.
Der größte Teil der linken Bewegung strebte im Gegensatz zur RAF einen anderen Weg zur Macht an. So war z.B. Rudi Dutschke, Wortführer der damaligen Studentenbewegung, der Meinung, dass der Parlamentarismus die Ausbeutung der Arbeiter verschleiere und die Privilegien der Besitzenden schütze. Da er diese Struktur als nicht reformierbar ansah, proklamierte er ihre Umwälzung in einem langwierigen Revolutionsprozess, den er als „langen Marsch durch die Institutionen“ bezeichnete. Trotzdem befürwortete er im Kampf gegen den „Imperialismus“ auch Terror, da der bürgerlich-kapitalistische Staat zur Aufrechterhaltung seiner Ordnung ebenfalls Gesinnungsterror und physischen Terror anwende.
Große Teile der ehemaligen Neuen Linken engagierten sich seit den 1970er Jahren in der wachsenden Frauen- und Ökologiebewegung und/oder waren an der Gründung der Partei „Die Grünen“ beteiligt. Diese deckt(e) eine ziemliche Spannweite linker Ideen ab, war aber zu Beginn politisch breiter besetzt.[6]
Im weiteren Verlauf, besonders im 21. Jahrhundert, ist zu beobachten, dass in Europa und Amerika einflussreiche Stellen z.B. in Politik und Medien mit Anhängern oben beschriebener Ideen besetzt werden. In Deutschland war 1998 dafür ein wichtiges Jahr, als Personen der ersten rot-grünen Bundesregierung zunehmend die Möglichkeit erhielten, neomarxistische Ideale zu installieren. Der Marsch durch die Institutionen war erfolgreich.
Aus den Zielen ergeben sich schon indirekt Kritikpunkte aus biblischer Sicht, die nicht alle erläutert werden müssen. Es fallen auch gewisse Widersprüchlichkeiten auf, die es aber bei allen politisch-gesellschaftlichen Strömungen gibt, da es sich nie um völlig homogene Systeme handelt. Entscheidend ist jedoch, dass die Durchdringung einer Gesellschaft mit der individuell gelebten Sünde zu den Voraussetzungen gehört, um die Menschen für die sozialistischen Ideen empfänglicher zu machen. Der Sozialismus kann aus biblischer Sicht in etlichen Bereichen als Kreislaufsystem der Sünde angesehen werden. Er benutzt die Sünde zur Machtergreifung und setzt dann die (in manchen Staaten erschlichene und durch Betrug und Gewalt erprobte) Macht ein, um die Herrschaft der Sünde zu festigen.
Der russische Philosoph und Dissident Igor Schafarewitsch, Zeitgenosse und Freund Alexander Solschenizyns, hat die zentralen Elemente des Sozialismus, die historisch in unterschiedlicher Ausprägung als politisch-ideengeschichtliche Grundmuster auftreten, systematisiert. Diese Elemente betreffen die gesellschaftliche Rolle von Ehe und Familie, Eigentum, Individualität und Kultur. Schafarewitsch fasst diese Analyse in seinem Hauptwerk Der Todestrieb der Geschichte – Erscheinungsformen des Sozialismus (1975) zusammen.
Der Autor betrachtet den Sozialismus mit seinen negativen Begleiterscheinungen als anthropologische Konstante in der Menschheitsgeschichte und macht in seinem Werk deutlich, dass die fünf zentralen kritischen Aspekte wesentlich älter sind als die politische Bewegung mit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert. Es handelt sich um: Feindschaft gegen Ehe und Familie, Ablehnung des Privateigentums, Verneinung des Wertes des Individuums, Hass auf die Religion, insbesondere das Christentum, und Zerstörung bzw. Verflachung von Kunst, Kultur und Musik. Diese Aspekte lagen in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen in unterschiedlicher Verteilung, Intensität und Ausprägung vor.
Schafarewitsch nutzt diese Aspekte zur Identifikation und Klassifikation von Gesellschaftsordnungen. Die Ursache für die Menschenfeindlichkeit des Sozialismus sieht er u.a. darin, dass die Ausprägung dieser Aspekte auf einer spirituellen, also gleichsam religiösen Ebene stattfinde, was eine grundsätzliche Ablehnung von Menschenwürde und Freiheitsrechten des Individuums zur Folge habe. Dimitrios Kisoudis schreibt im Vorwort des Werkes: „Zweck des Sozialismus ist es, das Individuum mit seiner Persönlichkeit auszulöschen … Er kann überall jederzeit auftauchen, wenn der Mensch die Verbindung zu Gott gekappt hat und das Nichts anzubeten beginnt.“[8]
Die von Anhängern oft wiederholte Meinung, dass der Sozialismus gut sei, aber leider immer nur falsch praktiziert wurde, ist also eine Illusion. Ebenso die Behauptung, linke Politik stehe für Befreiung, Gerechtigkeit und Gleichheit. Dort, wo linke Politik in sozialistischen oder kommunistischen Staaten propagiert wurde und wird, steht sie für Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Viele Millionen Tote stehen mit dieser Ideologie in direktem Zusammenhang. Die Gründe liegen u.a. in einem falschen Menschenbild und dessen Folgen.
Wie wir oben sahen, meinte Karl Marx in Bezug auf Religion, dass der Mensch keinen Maßstab außer sich selbst akzeptieren solle. Er und Friedrich Engels erschufen mit ihrem Denken ein eigenes Religionssystem, das viele Millionen Menschen das Leben gekostet hat (z.B. unter Stalin und Mao). Der „Neomarxismus“, also die vorwiegend in westliche Demokratien eingezogene Form des Marxismus, hat mit Hilfe der Frankfurter Schule entscheidende Weichen für die Akzeptanz dieser linken Ideologie gestellt, die mittlerweile ebenfalls zum Teil religiöse Züge trägt. Wenn wir dabei auf einigen Gebieten eine Radikalisierung sehen, liegt das u.a. daran, dass der Religionsersatz immer stärkere Mittel braucht, um das Sinnvakuum, das durch die Abkehr vom Christentum entstanden ist, zu füllen. Es gibt kein Genug und keine Zufriedenheit. Die vergebliche Suche nach dem „guten Gewissen“ kommt nicht zur Ruhe.
Der positive Einfluss des Christentums über Jahrhunderte[9] wird also immer mehr zurückgedrängt; Sünde, Unmoral und Verzweiflung nehmen zu. Auf dem Weg dahin ist der Neomarxismus ein Mittel (neben anderen). Vielleicht konnte dieser Artikel eine Hilfe sein, einige Ursachen und Tendenzen davon bewusst zu machen.
Literaturauswahl
Ralf B. Bergmann: Die freie Gesellschaft und ihre Feinde. Stuttgart (Verlag des Professorenforums) 2021.
Günter Rohrmoser: Kulturrevolution in Deutschland. Philosophische Interpretation der geistigen Situation unserer Zeit. Gräfelfing (Resch) 2008.
Igor R. Schafarewitsch: Der Todestrieb in der Geschichte. Erscheinungsformen des Sozialismus. Grevenbroich (Lichtschlag) 22016.
Thomas Schirrmacher: Marxismus – Opium für das Volk. Berneck (Schwengeler) 1990.
Jochen Klein
[1] Vgl. Schirrmacher, S. 11ff.
[2] Vgl. „Kritisches zu Sigmund Freud“, www.denkendglauben.de
[3] Rohrmoser, S. 64f.
[4] Vgl. „Kritisches zur 1968er-Bewegung“, www.denkendglauben.de
[5] Vgl. „Kritisches zur Aufklärung“, www.denkendglauben.de
[6] Vgl. Lothar Gassmann: Die Grünen. Was steckt wirklich dahinter? Karlsruhe (Jeremia) 52021.
[7] Vgl. dazu „Kritisches zu kirchlichen Entwicklungen“ und „Kritisches zur postevangelikalen Bewegung“, www.denkendglauben.de
[8] Vgl. dazu den Nihilismus Nietzsches, www.denkendglauben.de
[9] Vgl. dazu Alvin J. Schmidt: Wie das Christentum die Welt veränderte und Vishal Mangalwadi: Das Buch der Mitte. Wie wir wurden, was wir sind. Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur, Rezensionen auf www.denkendglauben.de
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